Harry hatte das Gefühl, durch einen Schlafsaal zu schleichen. Die einzigen Geräusche waren ihre Schritte und ein gleichmäßiges, leises Blubbern in den Aquarien.
Vor einer großen Glaswand blieb Birgitta stehen. »Und hier haben wir den Saltie des Aquariums, Matilda aus Queensland«, sagte sie und leuchtete mit der Lampe auf die Glaswand. Dahinter lag in einem rekonstruierten Flußbett ein ausgetrockneter Stamm. In dem davorliegenden Bassin trieb ein großes Holzstück.
»Was ist ein Saltie?« fragte Harry und versuchte hinter der Glasscheibe etwas Lebendiges zu erkennen. In diesem Augenblick hob das Holzstück die Lider, und zwei grünschimmernde Augen kamen zum Vorschein. Sie reflektierten das Licht im Dunkeln.
»Das ist ein Krokodil, das im Salzwasser lebt, im Gegensatz zu den Freshies. Die Freshies ernähren sich fast ausschließlich von Fischen. Vor denen braucht man keine Angst zu haben.«
»Und die Salties?«
»Vor denen solltest du wirklich Angst haben. Manche sogenannten gefährlichen Raubtiere greifen Menschen nur an, wenn sie sich bedroht fühlen, wenn sie Angst haben oder man in ihr Territorium eingedrungen ist. Ein Saltie aber ist eine einfache, unkomplizierte Seele. Den interessiert nur dein Körper. In den Sumpfgebieten im Norden werden jedes Jahr viele Australier von Krokodilen getötet.«
Harry lehnte sich an die Glaswand.
»Führt das denn nicht zu einer gewissen … äh … Antipathie? In manchen Gegenden in Indien hat man die Tiger ausgerottet, weil die angeblich Säuglinge fraßen. Warum sind diese Menschenfresser nicht ausgerottet worden?«
»Hier unten haben die meisten ein ebenso entspanntes Verhältnis zu Krokodilen wie zu Autounfällen. Na ja, jedenfalls fast. Wenn man Straßen will, muß man halt damit rechnen, daß manch einer darauf ums Leben kommt, nicht wahr? Nun ja, und wenn man Krokodile will, dann ist das eben genauso. Diese Tiere fressen Menschen, das ist nun einmal so.«
Harry schauderte es. Matilda hatte ihre Lider wieder wie die Lichtklappen eines Porsche geschlossen. Nicht eine Bewegung an der Wasseroberfläche verriet, daß das Holzstück, das einen halben Meter von ihm entfernt hinter der Glasscheibe lag, in Wirklichkeit aus zwei Tonnen Muskeln, Zähnen und schlechter Laune bestand.
»Laß uns weitergehen«, schlug Harry vor.
»Hier haben wir Mr. Bean«, sagte Birgitta und leuchtete zu einem kleinen, braunen, flunderartigen Fisch hinein. »Das ist ein Fiddler Ray, so nennen wir auch Alex an der Bar, den Inger Mr. Bean nannte.«
»Warum Fiddler Ray?«
»Ich weiß nicht. Der hieß schon so, als ich hier angefangen habe.«
»Ein vornehmer Name. Der scheint gerne unten am Boden zu liegen?«
»Ja, und darum solltest du dich beim Baden in acht nehmen. Der ist nämlich giftig und sticht, wenn du auf ihn trittst.«
Sie gingen eine geschwungene Treppe hinunter, bis sie zu einem der großen Tanks kamen.
»Die Tanks sind eigentlich im herkömmlichen Sinn keine richtigen Aquarien, da ist einfach ein Teil des Port Jackson eingezäunt worden«, sagte Birgitta, als sie weitergingen.
Von der Decke fiel ein schwaches, grünliches Licht in wellenartigen Streifen auf sie herab. Es glitt über Birgittas Körper und ihr Gesicht. Harry hatte das Gefühl, unter der Kristallkugel einer Diskothek zu stehen. Erst jetzt richtete sie die Taschenlampe zur Decke, und Harry erkannte, daß er auf allen Seiten von Wasser umgeben war. Sie standen in einem gläsernen Tunnel unter dem Meer, und das Licht kam von außen und wurde durch das Wasser gefiltert. Ein großer Schatten glitt ganz nah an ihnen vorbei, und Harry zuckte unwillkürlich zusammen. Birgitta lachte und richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf einen riesigen Rochen mit einem gewaltigen Schwanz, der an der Glaswand vorbeischwamm.
»Mobulidae«, sagte sie. »Teufelsrochen.«
»Mein Gott, so etwas Riesiges!« flüsterte Harry.
Der Rochen war eine einzige, wellenartige Bewegung, wirkte wie ein endloses Wasserbett, und Harry wurde allein von dem Anblick müde. Dann drehte der Rochen um, neigte sich zur Seite, winkte ihnen zu und entschwebte wie ein schwarzes Gespenst in die dunkle Wasserwelt.
Sie setzten sich auf den Boden, und Birgitta breitete eine Decke aus, holte zwei Gläser aus ihrem Rucksack, eine Kerze und eine Flasche Rotwein ohne Etikett. Das Geschenk von einem Freund, der auf einem Weingut im Hunter Valley arbeitete, erklärte sie und öffnete die Flasche. Dann legten sie sich nebeneinander auf die Decke und schauten nach oben ins Wasser.
Es war, wie in einer auf den Kopf gestellten Welt zu liegen, wie in einen umgestürzten Himmel zu blicken, mit Fischen in allen Regenbogenfarben und merkwürdigen Geschöpfen, die jemandem mit allzu wilder Phantasie eingefallen sein mußten. Ein blauschimmernder Fisch mit einem fragenden Mondgesicht blieb direkt über ihnen mit schwach vibrierenden Brustflossen stehen.
»Ist es nicht wunderbar, wieviel Zeit sie sich nehmen, wie ziellos ihre Beschäftigung zu sein scheint?« flüsterte Birgitta. »Spürst du, wie sie die Zeit bremsen?« Sie legte eine kalte Hand auf Harrys Hals und drückte leicht zu.
»Spürst du, wie dein Puls fast zu schlagen aufhört?«
Harry mußte schlucken.
»Ich habe nichts dagegen, wenn die Zeit nur langsam verrinnt. Jetzt nicht«, sagte er, »nicht in den nächsten paar Tagen.«
Birgitta drückte fester zu.
»Rede jetzt nicht davon«, sagte sie.
»Manchmal denke ich: ›Harry du bist, verdammt noch mal, doch nicht so blöd.‹ Ich hab zum Beispiel gemerkt, daß Andrew von Aborigines immer als ›die‹, daß er über sein eigenes Volk in der dritten Person spricht. Deshalb habe ich mir schon eine ganze Menge über seine persönliche Geschichte zusammengereimt, bevor Toowoomba mir die konkreten Details erzählt hat. Ich hätte wirklich getippt, daß Andrew nicht bei seiner Familie aufgewachsen ist, daß er irgendwie nirgendwo richtig zu Hause ist, sondern an der Oberfläche dahintreibt und die Dinge von außen betrachtet. So wie wir jetzt hier sitzen und eine Welt betrachten, an der wir selbst nicht teilhaben können. Nach dem Gespräch mit Toowoomba war mir noch einiges mehr klar: Andrew wurde keineswegs der natürliche Stolz in die Wiege gelegt, den man als Mitglied eines bestimmten Volkes hat, sondern er mußte sich seinen eigenen schaffen. Zuerst glaubte ich, er schäme sich für seine Brüder, aber jetzt verstehe ich, daß es seine eigene Scham ist, gegen die erkämpft.«
Birgitta murmelte etwas, aber Harry fuhr fort:
»Manchmal glaube ich, daß ich teilweise verstehe. Aber nur, um dann im nächsten Augenblick wieder in die große Verwirrung zu stürzen. Ich mag diese Verwirrung nicht, ich kann sie nicht akzeptieren. Deshalb wünschte ich mir, ich hätte entweder nicht diese Gabe, Details wahrzunehmen, oder aber ich besäße die Fähigkeit, diese Bruchstücke zu einem Bild zusammenzusetzen, das Sinn macht.« Er drehte sich zu Birgitta und begrub sein Gesicht in ihren Haaren.
»Es ist einfach ein Fehler von Gott, einen Menschen von so geringer Intelligenz mit einer so ausgeprägten Beobachtungsgabe auszustatten«, sagte er und versuchte herauszufinden, woran ihn der Geruch von Birgittas Haaren erinnerte. Aber es lag so lange zurück, daß er es vergessen haben mußte.
»Also, was glaubst du zu erkennen?« fragte sie.
»Daß alle versuchen, auf etwas hinzuweisen, das ich nicht begreife!«
»Was denn?«
»Ich weiß es nicht. Sie sind wie Frauen, erzählen mir eine Geschichte, die etwas ganz anderes bedeuten soll. Wahrscheinlich ist das, was zwischen den Zeilen steht, überdeutlich zu erkennen, aber ich habe eben, wie gesagt, nicht den Blick dafür. Warum könnt ihr Frauen nicht einfach sagen, was ihr wollt? Ihr überschätzt die männliche Interpretationsgabe.«