»Willst du mir jetzt die Schuld geben?« rief sie lachend und schlug nach ihm. Das Echo rollte durch den unterirdischen Tunnel.
»Psst, weck nicht das Seeungeheuer«, sagte Harry.
Es dauerte eine Weile, bis Birgitta sah, daß er sein Weinglas nicht angerührt hatte.
»Ein kleines Glas Wein kann doch nicht schaden?« sagte sie.
»Doch«, erwiderte Harry, »das kann es.« Er zog sie lächelnd an sich. »Aber rede nicht davon.« Dann küßte er sie, und sie atmete ganz tief ein, als habe sie eine Ewigkeit auf diesen Kuß gewartet.
Harry schreckte auf. Die Kerze war ausgegangen, und es war stockfinster. Er wußte nicht, woher das grüne Licht im Wasser gekommen war, ob es der Mond über Sydney oder die Scheinwerfer am Hafen waren, auf jeden Fall aber war es jetzt verschwunden. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er tastete neben Birgitta, die sich nackt und mit zufriedener Miene in ihren Teil der Wolldecke gewickelt hatte, nach der Taschenlampe und richtete den Lichtkegel auf die Glaswand. Zuerst glaubte er, sein eigenes Spiegelbild zu sehen, doch dann gewöhnten sich seine Augen an das Licht, und er spürte, wie sein Herz einen letzten donnernden Schlag tat, bevor es einfror. Das Seeungeheuer stand direkt neben ihm und blickte ihn mit kalten, leblosen Augen an. Harry ging die Luft aus, und die Scheibe vor dem blassen wäßrigen Gesicht beschlug. Es war wie das Gespenst eines ertrunkenen Mannes, nur so groß, daß es den ganzen Tank auszufüllen schien. Die Zähne ragten aus seinem Kiefer hervor und sahen wie von einem Kind gemalt aus, eine Zickzacklinie dreikantiger, weißer Dolche, die zufällig in zwei blutrünstigen Reihen angeordnet waren. Dann schwamm es hoch und über ihn hinweg, doch während der ganzen Zeit fixierten ihn die toten Augen, erstarrt in einem haßerfüllten Blick, ein weißer, leichenartiger Körper, der mit langsamen, schlängelnden Bewegungen an dem Lichtkegel vorbeiglitt und einfach kein Ende nehmen wollte.
»So, morgen wollen Sie also fahren?«
»Jawoll.« Harry saß mit einer Kaffeetasse auf dem Schoß da. Er wußte nicht so recht, wo er sie hinstellen sollte. McCormack stand hinter seinem Schreibtisch auf und begann vor dem Fenster auf und ab zu gehen.
»Sie glauben also, wir sind noch weit davon entfernt, den Fall aufzuklären? Sie glauben, wir haben es wirklich mit irgendeinem Psychopathen dort draußen zu tun, einem gesichtslosen Mörder, der auf einen Impuls hin tötet, ohne Spuren zu hinterlassen, und daß wir nur warten können – und hoffen, daß er beim nächsten Mal einen Fehler macht?«
»Das habe ich nicht gesagt, Sir. Ich glaube nur, daß ich hier keinen Beitrag mehr leisten kann. Außerdem hat man mich angerufen und mir ausgerichtet, daß man mich in Oslo braucht.«
»Okay. Ich werden denen mitteilen, daß Sie sich hier gut geschlagen haben, Holy. Ich habe das so verstanden, daß man Sie zu Hause für eine Beförderung vorgeschlagen hat.«
»Mir hat noch niemand etwas gesagt, Sir.«
»Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei und schauen Sie sich Sydney noch ein bißchen an, bevor Sie abreisen, Holy.«
»Vorher werde ich nur noch diesen Alex Tomaros überprüfen, damit ich sicher bin, daß er nichts mit der Sache zu tun hat, Sir.«
McCormack blieb vor dem Fenster stehen und blickte über ein bewölktes, quälend warmes Sydney.
»Manchmal sehne ich mich nach Hause, Holy. Hinüber zu der schönen Insel.«
»Sir?«
»Kiwi. Ich bin ein Kiwi, Holy. So werden die Leute aus Neuseeland hier genannt. Meine Eltern kamen hierher, als ich zehn Jahre alt war. Dort drüben sind die Menschen netter zueinander. So habe ich das wenigstens in Erinnerung.«
»Wir öffnen erst in ein paar Stunden«, brummte die Frau am Eingang müde und wedelte mit ihrem Lappen in der Hand.
»Das geht in Ordnung, ich habe einen Termin mit Mr. Tomaros«, sagte Harry und fragte sich, ob sie sich von einem norwegischen Polizeischild würde beeindrucken lassen. Es war nicht notwendig. Sie öffnete die Tür gerade so weit, daß Harry hineinschlüpfen konnte. Es roch nach abgestandenem Bier und Seife. Erstaunlicherweise wirkte das Albury bei Tageslicht und so ganz ohne Gäste viel kleiner.
Er fand Alex Tomaros, alias »Mr. Bean«, alias »Fiddler Ray« in seinem Büro hinter der Bar. Harry stellte sich vor.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Holy?« Tomaros sprach schnell und mit einem deutlichen Akzent, so wie es die Leute gerne tun, die schon eine ganze Weile in einem anderen Land leben – in ihrer fertig entwickelten Version der Sprache.
»Danke, daß ich Sie so kurzfristig sprechen kann, Mr. Tomaros. Ich weiß, daß Sie schon von den anderen über alles mögliche befragt worden sind, ich werde Sie also nicht länger damit aufhalten, nur …«
»Das ist gut, wie Sie sehen, habe ich allerhand zu tun, Rechnungen, wissen Sie …«
»Ich verstehe. Aus Ihren Aussagen entnehme ich, daß Sie an dem Abend, an dem Inger verschwand, hier die Abrechnung gemacht haben. Kann das jemand bestätigen?«
»Ich bin mir sicher, daß Sie, wenn Sie die Akten noch deutlicher studiert hätten, gesehen hätten, daß ich alleine war. Ich bin immer alleine …« Harry beobachtete Alex Tomaros' arrogantes Auftreten und seinen nassen, spuckenden Mund: das glaube ich, dachte er – »… wenn ich die Abrechnung mache. Mutterseelenalleine. Ja, wenn ich wollte, könnte ich diesen Laden hier um Hunderttausende betrügen, ohne daß jemand auch nur das Geringste davon bemerken würde.«
»Rein formal betrachtet haben Sie also kein Alibi für den Abend, an dem Inger Holter verschwand?«
Tomaros nahm seine Brille ab. »Rein formal betrachtet habe ich gegen zwei Uhr meine Mutter angerufen und ihr gesagt, daß ich auf dem Weg bin.«
»Formal betrachtet hätten Sie zwischen ein Uhr, als die Bar schloß, und zwei Uhr eine ganze Menge anstellen können, Mr. Tomaros. Ich will damit nicht sagen, daß ich irgendeinen Verdacht gegen Sie habe …«
Tomaros blickte ihn starr an.
Harry blätterte in dem leeren Notizbuch und tat so, als suche er etwas.
»Warum haben Sie überhaupt Ihre Mutter angerufen? Ist es nicht ein wenig ungewöhnlich, jemanden wegen einer so banalen Nachricht nachts anzurufen?«
»Meine Mutter möchte immer gerne wissen, wo ich bin. Die Polizei hat auch mit ihr gesprochen, ich verstehe also nicht, warum wir das alles jetzt noch einmal durchkauen müssen.«
»Sie sind Grieche, nicht wahr?«
»Ich bin Australier und wohne seit zwanzig Jahren hier. Mein Vater und meine Mutter sind wohl Griechen. Meine Mutter ist jetzt australische Staatsbürgerin. Sonst noch etwas?« Er hatte sich voll im Griff.
»Sie haben sich für Inger Holter auf eine etwas persönlichere Art interessiert. Wie haben Sie reagiert, als sie Sie abwies und andere Männer bevorzugte?«
Tomaros leckte sich die Lippen und wollte etwas sagen, hielt sich dann aber doch zurück. Die Zungenspitze kam erneut zum Vorschein. Wie bei einer kleinen Schlange, die alle verachten und von der alle glauben, sie sei harmlos.
»Miß Holter und ich haben darüber gesprochen, einmal gemeinsam zu essen, wenn Sie das meinen. Sie war nicht die einzige hier, die ich eingeladen habe, Sie können gerne eine der anderen befragen. Cathrine oder Birgitta zum Beispiel. Ich lege nämlich Wert auf ein gutes Verhältnis zu meinen Angestellten.«
»Ihre Angestellten?«
»Nun, formal gesehen bin ich …«
»Der Geschäftsführer, eben, und wie fanden Sie es, als ihr Liebhaber hier auftauchte?«
Tomaros' Fassade begann zu bröckeln.
»Inger hatte zu vielen Kunden ein gutes Verhältnis. Woher sollte ich da wissen, daß einer von ihnen ihr Geliebter war? Sie hatte also einen Geliebten? Wie schön für sie …«
Harry brauchte keine psychologischen Fähigkeiten, um Tomaros' Versuch, den Gleichgültigen zu spielen, zu durchschauen.