Am Bondi Beach hatte sich ein dünner Wolkenschleier vor die Nachmittagssonne geschoben. Der Strand begann sich zu leeren und ein gleichmäßiger Strom von Menschen, der Australiens berühmte und glamourösen Strände bevölkert, kam ihnen entgegen: Surfer mit weißgemalten Nasen und Lippen, Bodybuilder mit wiegendem Gang, Mädchen in abgeschnittenen Jeans auf Rollerblades, sonnengebräunte Prominente und silikonoperierte Badenymphen; kurz gesagt: »The Beautiful People«, die Jungen und Schönen und – zumindest nach außen – Erfolgreichen. Die Campbell Parade war mit ihren dicht an dicht liegenden Modeboutiquen, den kleinen, aber begehrten Hotels und den einfachen, aber unverhältnismäßig teuren Restaurants gerade zu dieser Zeit des Tages ein vor Menschen überquellender Boulevard. Offene Sportwagen schoben sich durch die Schlangen, und die Motoren heulten ihre ungeduldigen Brunftschreie, während die Fahrer mit ihren Sonnenbrillen durch die verspiegelten Scheiben ihrer Wagen den Bürgersteig beobachteten.
Harry dachte an Kristin.
An damals, als er und Kristin auf ihrer Interrail-Tour in Cannes aus dem Zug gestiegen waren. Es war in der Hauptsaison gewesen, und sie hatten nicht ein einziges anständiges Zimmer auftreiben können. Sie waren damals schon so lange unterwegs gewesen, daß ihre Reisekasse sehr zur Neige gegangen war, eine Übernachtung in einem der zahlreichen Luxushotels kam deshalb überhaupt nicht in Frage. Deswegen schauten sie nach, wann der nächste Zug nach Paris fuhr, verstauten ihre Rucksäcke in einem Schließfach und gingen zur Croisette hinunter. Dort promenierten sie hin und her und schauten sich die Menschen und Tiere an, alle gleichermaßen schön und reich, und die wahnwitzigen Jachten mit eigener Mannschaft – mit Cabincruisern als Zubringerbooten am Achterende befestigt und Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach – und sie schworen sich noch an Ort und Stelle, ihr Leben lang links zu wählen.
Schließlich waren sie von all dem Hin- und Herlaufen so verschwitzt, daß sie ein Bad nehmen mußten. Handtuch und Badezeug waren im Rucksack, so daß sie in ihrer Unterwäsche schwimmen gehen mußten. Kristin hatte keine sauberen Slips mehr und trug deshalb Harrys triste Männerunterwäsche. Sie wateten glücklich kichernd mit ihren weißen Doppelripp-Unterhosen zwischen teuren Tangas und schwerem Goldschmuck ins Mittelmeer.
Harry erinnerte sich daran, daß er hinterher auf dem Rücken im Sand lag und Kristin anschaute, die das T-Shirt lose um ihre Hüften geknotet hatte, während sie die nasse, schlabberige Unterhose auszog. Er genoß den Anblick ihrer glühenden Haut, die in der Sonne glitzernden Wassertropfen, das T-Shirt, das an einem langen, sonnengebräunten Schenkel entlangglitt, den weichen Bogen ihrer Hüfte und die langen Blicke der Franzosen, und er sah, daß auch sie ihn einen Augenblick lang anschaute, ihn auf frischer Tat ertappte, lächelte und seinem Blick standhielt, während sie zögerlich die Jeans hochzog – eine Hand unter das T-Shirt gleiten ließ, so als wolle sie den Reißverschluß hochziehen, sie aber dort liegen ließ, den Kopf hob und die Augen schloß … Dann fuhr sie sich neckend mit einer roten Zungenspitze über die Lippen, ließ sich fallen und landete, von Lachen geschüttelt, hart auf ihm.
Später aßen sie in einem viel zu teuren Straßenrestaurant mit Aussicht auf das Meer, und als die Sonne unterging, saßen sie eng umschlungen am Strand, und Kristin weinte ein bißchen, weil es so schön war. Da entschlossen sie sich, im Carlton-Hotel einzuchecken und später ohne zu bezahlen abzuhauen und dafür eventuell die zwei Tage Paris sausen zu lassen.
Immer wenn er sich an Kristin erinnerte, mußte er sofort an diesen Sommer denken. Alles war so intensiv gewesen, und im nachhinein fiel es leicht zu behaupten, daß der Grund dafür der Abschied gewesen war, der in der Luft lag. Außerdem konnte sich Harry nicht daran entsinnen, damals an so etwas überhaupt gedacht zu haben.
Im Herbst des gleichen Jahres ging Harry zum Militär, und noch vor Weihnachten hatte Kristin einen Musiker kennengelernt, mit dem sie nach London zog.
Ab der Ecke Campbell Parade und Lamrock Avenue saßen Harry, Lebie und Wadkins in einem Straßencafe. Ihr Tisch lag jetzt am späten Nachmittag im Schatten, aber es war noch nicht so spät, daß ihre Sonnenbrillen auffielen. Unangenehmer waren die Jacken bei der Wärme, aber die Alternative war, im Hemd und mit offenem Pistolengurt dazusitzen. Sie sagten nicht viel, sondern warteten einfach.
Auf der Strandpromenade, genau zwischen Strand und Campbell Parade, lag das St. George-Theater, ein schönes, gelbes Gebäude, in dem Otto Rechtnagel bald auftreten würde.
»Hast du früher schon einmal eine Browning Hi-Power benutzt?« fragte Wadkins.
Harry schüttelte den Kopf. Sie hatten ihm den Ladegriff gezeigt und wie man die Waffe sicherte, als man sie für ihn aus dem Depot geholt hatte, aber das war alles. Das war nicht so schlimm, Harry rechnete nicht gerade damit, daß Otto eine Maschinenpistole ziehen und sie alle niedermähen würde.
Lebie überprüfte seine Uhr. »Es wird Zeit,« sagte er. Sein Kopf war von einer Reihe Schweißperlen bedeckt.
Wadkins räusperte sich.
»Okay, zum letzten Maclass="underline" Wenn alle auf der Bühne stehen und sich nach der letzten Nummer verbeugen, nehmen Harry und ich den Seiteneingang neben der Bühne. Ich habe mit der Wache besprochen, daß diese Tür offen bleibt. Er hat auch ein großes Namensschild an der Garderobe von Otto Rechtnagel befestigt. Wir stellen uns vor die Tür und warten, bis Rechtnagel kommt. Und klick – Handschellen und keine Waffen, wenn es nicht unbedingt sein muß. Wir gehen zur Hintertür hinaus, wo ein Polizeiwagen auf uns wartet. Lebie bleibt im Saal sitzen und gibt uns über das Walkie-Talkie ein Signal, wenn Rechtnagel kommt. Das gleiche, wenn Rechtnagel Lunte riecht und versucht, durch den Saal in Richtung Haupteingang abzuhauen. Laßt uns auf unsere Plätze gehen und hoffen, daß die da drin Air- Conditioning haben.«
In dem kleinen, intimen Saal des St. George-Theaters war es brechend voll, und als sich der Vorhang hob, klatschten die Menschen voller Begeisterung. Das heißt, der Vorhang hob sich nicht, er fiel herunter. Die Clowns schauten zuerst verwirrt an die Decke, wo sich der Vorhang plötzlich gelöst hatte, und dann diskutierten sie mit weitausholenden Gebärden, bevor sie bei dem Versuch, den Vorhang zu beseitigen, planlos über die Bühne rannten, übereinander stolperten und entschuldigend mit den Hüten ins Publikum grüßten. Gelächter und aufmunternde Rufe folgten. Es schienen eine ganze Menge Freunde und Bekannte der Akteure im Saal zu sein. Die Bühne wurde aufgeräumt und zu einem Schafott umgebaut. Begleitet von einem langsamen, monotonen Trauermarsch, der auf einer einfachen Trommel gespielt wurde, betrat Otto die Szene.
Harry sah die Guillotine und wußte gleich, daß es sich um eine Variante der Nummer handeln mußte, die er im Power House gesehen hatte. Heute mußte ganz offensichtlich die Königin daran glauben, denn Otto trug ein rotes Ballkleid und eine riesige weiße Perücke. Auch sein Gesicht war weiß gepudert.
Der Henker trug ebenfalls ein neues Kostüm, einen enganliegenden, schwarzen Kittel mit großen Ohren und »Schwimmhäuten« unter den Armen, der ihn wie einen Teufel aussehen ließ.
Oder eine Fledermaus, dachte Harry. Das Fallbeil der Guillotine wurde hochgezogen, ein Kürbis darunter plaziert, und dann wurde das Beil wieder fallengelassen. Mit einem dumpfen Laut schlug es auf dem Boden der Guillotine auf, als hätte es den Kürbis gar nicht gegeben. Der Henker hielt die zwei großen Hälften triumphierend in die Höhe, während das Publikum jubelte und pfiff. Nach ein paar herzzerreißenden Szenen, in denen die Königin weinte und flehte und erfolglos versuchte, sich bei dem Schwarzgekleideten einzuschmeicheln, wurde sie zur Guillotine geschleppt, wobei ihre Beine zur großen Belustigung des Publikums unter dem Kleid hervorstrampelten.
Das Fallbeil wurde hochgezogen, und der Trommler stimmte einen immer lauter werdenden Trommelwirbel an. Die Lichter auf der Bühne wurden gedämpft.