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Wadkins lehnte sich nach vorne:

»Er bringt also auch auf der Bühne Blondinen um?«

Der Trommelwirbel wurde immer wilder. Harry schaute sich um, die Menschen saßen ganz still da, manche beugten sich mit geöffneten Mündern nach vorne, während andere sich die Augen zuhielten. Generationen von Menschen hatten seit mehr als hundert Jahren so dagesessen und sich von der gleichen Nummer erfreuen und erschrecken lassen. Wie als Antwort auf seine Gedanken lehnte sich Wadkins wieder nach vorne:

»Gewalt ist wie Coca-Cola und die Bibel. Ein Klassiker.«

Der Trommelwirbel erklang noch immer, und Harry bemerkte, daß es sich ein wenig in die Länge zog. So lange hatten sie doch beim letzten Mal, als er die Nummer gesehen hatte, nicht gebraucht, um das Beil fallenzulassen? Der Henker schien unruhig geworden zu sein, er trippelte vor und zurück und schaute immer wieder zur Guillotine hoch, als wenn etwas nicht stimmte. Dann rauschte plötzlich, ohne daß jemand etwas getan zu haben schien, das Beil herab. Harry erstarrte unwillkürlich und ein Seufzen ging durch den Saal, als das Beil den Nacken traf. Die Trommel schwieg plötzlich, und der Kopf fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Eine ohrenbetäubende Stille folgte, bevor jemand in der Reihe vor Wadkins und Harry losschrie. Unruhe breitete sich im Saal aus, und Harry blinzelte durch das Halbdunkel, um zu erkennen, was geschah. Er sah nur, wie der Henker zurückschreckte.

»Mein Gott«, flüsterte Wadkins.

Von der Bühne kam ein Geräusch, als würde jemand in die Hände klatschen. Dann konnte Harry etwas erkennen. Aus der Halskrause der Geköpften ragte das Rückgrat heraus wie ein weißer Wurm, der langsam mit dem Kopf nickte. Aus dem klaffenden Loch spritzte stoßweise das Blut auf die Bühne.

»Er wußte, daß wir auf dem Weg waren!« flüsterte Wadkins, »er wußte, daß wir kommen würden! Er hat sich sogar wie eines seiner abgewrackten Vergewaltigungsopfer herausgeputzt!« Er lehnte sich unmittelbar bis vor Harrys Gesicht nach vorne. »Scheiße, Holy, scheiße!«

Harry wußte nicht, warum ihm plötzlich übel wurde – war es das Blut, Wadkins geschmacklose Wortwahl »abgewrackte Vergewaltigungsopfer« oder ganz einfach sein schrecklich abstoßender Mundgeruch.

Nach einer Weile hatte sich ein rotes Rinnsal gebildet, in dem der Henker offensichtlich im Schockzustand ausrutschte, als er den Kopf aufheben wollte. Er klatschte auf den Boden, und zwei andere Clowns rannten auf die Bühne und schrien durcheinander:

»Macht doch das Licht an!«

»Den Vorhang hoch!«

Zwei weitere Clowns schleppten den Vorhang auf die Bühne, und alle vier blieben dann stehen und schauten abwechselnd sich und die Aufhängung des Vorhangs an der Bühnendecke an. Hinter der Bühne hörte man jemanden rufen, die Scheinwerfer knisterten, und dann knallte es laut, worauf es im Saal stockfinster wurde.

»Da stinkt doch was zum Himmel, komm mit!« Wadkins zog Harry am Ärmel, stand auf und wollte nach vorne.

»Setz dich hin«, flüsterte Harry und zog ihn auf den Stuhl.

»Wie bitte?«

Das Licht wurde wieder eingeschaltet, und die Bühne, die noch vor wenigen Sekunden ein einziges Chaos aus Blut, Köpfen, Guillotine, Clowns und Vorhang gewesen war, war leer, abgesehen von dem Henker und Otto Rechtnagel, der am Bühnenrand stand und den blonden Kopf der Königin unter dem Arm trug. Sie wurden mit einem Jubelschrei aus dem Saal empfangen und dankten es mit einer tiefen Verbeugung.

»l'll be damned,« sagte Wadkins.

In der Pause genehmigte sich Wadkins ein Bier. »Die erste Zirkusnummer, die mir fast den Verstand geraubt hat,« sagte er. »Ich bin, zum Teufel noch mal, noch immer ganz zittrig. Vielleicht sollten wir uns den Kerl jetzt schon schnappen, das Warten macht mich ganz nervös.«

Harry zuckte mit den Schultern.

»Warum? Er will nicht weg und hegt auch keinen Verdacht. Laß uns unseren Plan verfolgen.«

Wadkins schaltete diskret sein Walkie-Talkie ein, um zu überprüfen, ob er Kontakt mit Lebie hatte, der sicherheitshalber im Saal geblieben war. Der Polizeiwagen an der Hintertür war bereits an Ort und Stelle.

Harry mußte sich selbst eingestehen, daß die neuen technischen Finessen der Nummer ihre Wirkung zeigten, aber er grübelte noch immer darüber nach, warum Otto Ludwig XVI. gegen die nicht eindeutig zu identifizierende blonde Frau eingetauscht hatte. Er rechnete wohl damit, daß Harry das Gratisticket nutzte und sich die Vorstellung ansah. War das seine Art, mit der Polizei zu spielen? Harry hatte gelesen, daß es nicht ungewöhnlich war, daß Serienmörder immer selbstsicherer wurden, je länger man sie nicht zu fassen bekam. Oder war es eine Bitte, daß ihn endlich jemand aufhielt? Aber natürlich gab es auch noch eine dritte Möglichkeit – daß es sich ganz einfach um eine Zirkusnummer handelte, die sie ein klein bißchen verändert hatten.

Eine Glocke ertönte.

»Here we go again,« sagte Wadkins. »Ich hoffe, heute abend werden nicht noch mehr Menschen umgebracht.«

Etwas später im zweiten Akt kam Otto, verkleidet als Jäger, wieder auf die Bühne geschlichen. Er hielt die Pistole in der Hand und schaute zwischen ein paar Bäumen, die man auf die Bühne geschoben hatte, nach oben. Aus den Bäumen klang Vogelgezwitscher, das der Jäger Otto zu imitieren versuchte, während er nach oben in die Zweige zielte. Es knallte, eine kleine Rauchwolke stieg aus der Pistole empor, und etwas Schwarzes fiel aus dem Baum und landete mit leisem Klatschen auf der Bühne. Der Jäger rannte zu der Stelle und hob überrascht eine schwarze Katze hoch! Otto verbeugte sich tief und verließ unter lautem Applaus die Bühne.

»Das habe ich nicht verstanden«, flüsterte Wadkins.

Harry hätte die Vorstellung vielleicht genießen können, wenn er nicht so aufgeregt gewesen wäre. Aber nun schaute er mehr auf die Uhr als auf die Bühne. Außerdem steckte in vielen Nummern eine politische Satire eher nationalen Charakters, die an Harry spurlos vorüberging, das Publikum aber sehr zu schätzen schien. Zum Schluß spielte die Musik auf, die Lampen blinkten, und alle Akteure betraten die Bühne.

Harry und Wadkins entschuldigten sich, als sie sich an der Reihe der Menschen vorbeischoben, die aufstehen mußten, um sie vorbeizulassen, und hasteten zu der Tür neben der Bühne. Sie war, wie abgesprochen, nicht verschlossen und ging auf einen Flur, der in einem Halbkreis hinter der Bühne entlang führte. Im hinteren Teil des Flures fanden sie die Tür mit dem Schild »Otto Rechtnagel, Clown« und warteten. Die Musik und das Getrampel aus dem Saal ließen die Wände wackeln. Gleichzeitig war ein kurzes Rauschen in Wadkins Walkie-Talkie zu hören. Er nahm es hoch.

»Schon?« fragte er. »Die Musik spielt doch noch! Over!«

Er riß die Augen auf.

»Was? Sag das noch einmal! Over!«

Harry begriff, daß etwas schiefgelaufen war.

»Bleib da und behalte die Bühnentür im Auge! Over und Ende!«

Wadkins steckte das Walkie-Talkie zurück in seine Innentasche und nahm die Pistole aus dem Schulterhalfter:

»Lebie sieht Otto Rechtnagel nicht auf der Bühne!«

»Vielleicht erkennt er ihn nicht wieder, die verwenden ja verdammt viel Schminke, wenn die …«

»Das Schwein ist nicht auf der Bühne!« wiederholte er und drückte die Klinke der Garderobentür runter, aber die Tür war verschlossen.

»Scheiße, Holy, ich spüre, daß da was verdammt schiefläuft! Scheiße!«

Der Flur war eng. Wadkins stemmte sich mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Wand und trat dann gegen das Türschloß. Nach drei Tritten zersplitterte das Holz am Schloß, die Tür gab nach. Sie taumelten in eine leere Garderobe voll mit weißem Dampf. Der Boden war naß. Das Wasser und der Dampf drangen durch eine halbgeöffnete Tür, die offensichtlich zu einem Bad führte. Sie bezogen an den Seiten der Tür Stellung, auch Harry hatte jetzt seine Pistole gezogen und versuchte, die Waffe mit den Fingern zu entsichern.

»Rechtnagel!« schrie Wadkins. »Rechtnagel!«

Keine Antwort.

»Das gefällt mir gar nicht«, flüsterte er erregt.