Harry hatte zu viele Krimis gesehen, um der Situation etwas Positives abgewinnen zu können. Laufende Duschen, in denen niemand antwortete, hatten eine Tendenz, unschöne Dinge zu beherbergen.
Wadkins wies mit dem Zeigefinger auf Harry und mit dem Daumen in Richtung Dusche. Am liebsten hätte Harry ihm auch einen Finger gezeigt, aber er begriff, daß er jetzt an der Reihe war. Er trat gegen die Tür und ging zwei Schritte in eine glühendheiße Dampfhölle hinein. In dem Bruchteil einer Sekunde war er vollkommen durchnäßt. Direkt vor seinem Gesicht erahnte Harry einen Duschvorhang. Mit gezückter Pistole schob er den Vorhang mit einem Ruck zur Seite.
Die Dusche war leer.
Er verbrannte sich den Arm, als er das Wasser abdrehte, und fluchte laut auf norwegisch. Dann trat er einen Schritt zurück, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, als sich der Dampf lichtete. Es gurgelte in seinen Schuhen.
»Hier ist niemand!« rief er.
»Warum gibt es hier so verdammt viel Wasser?«
»Irgend etwas verstopft den Abfluß! Einen Augenblick!«
Harry steckte die Hand dort ins Wasser, wo er den Abfluß vermutete. Er tastete ein bißchen darin herum und stieß dann auf etwas Glattes, Weiches, das im Abfluß feststeckte. Er bekam es zu fassen und zog es hoch. Schlagartig wurde ihm übel, er würgte und versuchte zu atmen, aber der Dampf, den er einatmete, schien ihn plötzlich zu ersticken.
»Was ist los?« fragte Wadkins. Er stand in der Tür und blickte auf Harry, der vor der Dusche auf den Knien kauerte.
»Ich glaube, ich habe eine Wette verloren und schulde Otto Rechtnagel hundert Dollar«, sagte Harry leise, »oder dem, was von ihm noch übrig ist.«
Später erinnerte sich Harry an das, was im St. George-Theater geschehen war, wie durch einen Nebel. Als wenn sich der Dampf aus Ottos Dusche überallhin ausgebreitet hätte: hinaus, auf den Flur, so daß die Silhouette des Wachmanns ihm undeutlich erschien, der die Tür des Requisitenraums zu öffnen versuchte, durch das Schlüsselloch in den Raum hinein, in dem er sich wie ein roter Filter über den Anblick legte, der sich ihnen bot, als sie die Tür aufbrachen und die blutüberströmte Guillotine sahen – in ihre Gehörgänge, in denen er das Geräusch der Schreie merkwürdig dämpfte, als es ihnen nicht gelang, die Zirkuskollegen daran zu hindern, den Raum zu betreten, wo sie Otto Rechtnagels zerstückelte Leiche im ganzen Raum verteilt sahen.
Die Extremitäten lagen wie die Arme und Beine einer Puppe in allen Ecken verstreut. Der Boden und die Wände waren über und über mit echtem, zähem Blut bespritzt, das in kurzer Zeit koagulieren und schwarz werden würde. Ein gliedloser Körper lag auf der Bank der Guillotine, ein Torso aus Fleisch und Blut mit weit aufgerissenen Augen, einer Clownsnase und Lippenstift auf Mund und Wangen.
Der Dampf klebte an Harrys Haut, an seinem Mund und Gaumen. Wie in Zeitlupe sah er Lebie aus dem Nebel treten, zu ihm herüberkommen und hörte ihn dann flüstern: »Andrew ist aus dem Krankenhaus verschwunden.«
Wadkins stand immer noch wie festgenagelt an der Bank der Guillotine.
»So scheiß arrogant«, hörte Harry ihn in weiter Ferne fluchen.
So logisch, dachte Harry.
Der Mörder hatte Otto eine weiße Perücke aufgesetzt.
Jemand mußte den Ventilator geölt haben, er schnurrte gleichmäßig und beinahe lautlos.
»Der einzige, den die Polizeibeamten in dem Streifenwagen aus der Hintertür haben kommen sehen, war also diese schwarzgekleidete Henkerfigur, habe ich das richtig verstanden?«
McCormack hatte alle zu einer Besprechung gebeten.
Wadkins nickte.
»So ist es, Sir. Wir müssen noch abwarten, ob die Schauspieler und Wachen etwas gesehen haben, die werden gerade vernommen. Der Mörder hat entweder im Saal gesessen und ist über die offene Bühne hereingekommen, oder er hat die Hintertür genommen, bevor der Streifenwagen an Ort und Stelle war.«
Er seufzte.
»Der Wachmann sagt, daß die Hintertür während der Vorstellung abgeschlossen war, der Mörder muß also entweder einen Schlüssel gehabt haben, hereingelassen worden sein oder sich unbemerkt zusammen mit den Akteuren hereingeschlichen und sich irgendwo versteckt haben. Und dann muß er nach der Katzennummer angeklopft haben, als Otto sich in seiner Garderobe auf das Finale vorbereitete. Wahrscheinlich hat er ihn betäubt, die Jungs von der Spurensicherung haben Spuren von Diethyläther sichergestellt. Entweder in der Garderobe oder nachdem sie den Requisitenraum betreten haben – hoffen wir es jedenfalls«, fügte Wadkins hinzu. »Nichtsdestotrotz ist der Kerl ein eiskalter Teufel. Nach der Zerstückelung muß er das abgeschnittene Glied wieder mit in die Garderobe genommen und die Dusche angedreht haben, so daß alle, die eventuell zu Otto wollten, das Wasser hörten und glauben mußten, er dusche gerade.«
McCormack räusperte sich.
»Was ist mit der Guillotine? Es gibt einfachere Möglichkeiten, jemanden umzubringen …«
»Tja, Sir, ich glaube fast, das mit der Guillotine war ein spontaner Einfall. Er konnte wohl kaum wissen, daß sie in der Pause in den Requisitenraum geschoben worden war.«
»Ein wirklich sehr, sehr kranker Mann«, sagte Lebie.
»Was ist mit den Türen? Die waren doch alle geschlossen. Wie sind die in den Requisitenraum gekommen?«
»Ich habe mit dem Wachmann gesprochen«, sagte Harry. »Als Chef des Ensembles hatte Otto einen Generalschlüssel. Der ist verschwunden.«
»Und was ist mit diesem … Teufelskostüm?«
»Das lag zusammen mit dem losen Kopf und der Perücke im Kopfkasten der Guillotine. Der Mörder muß es nach der Tat als Verkleidung angezogen haben. Auch das war ziemlich gerissen und sicher nicht vorher geplant.«
McCormack stützte den Kopf schwer auf die Hände.
»Was sagen Sie, Yong?«
Yong hatte, während die anderen redeten, seinen PC bearbeitet.
»Lassen Sie uns den schwarzgekleideten Teufel mal für einen Augenblick vergessen«, sagte er, »alles spricht dafür, daß der Mörder ein Mitglied des Ensembles sein muß.«
Wadkins grunzte laut.
»Lassen Sie mich ausreden, Sir«, sagte Yong, »wir suchen nach jemandem, der die Vorstellung kennt, der wußte, daß Otto nach der Katzennummer keinen Auftritt mehr hatte und deshalb auf der Bühne bis zum Finale etwa zwanzig Minuten später nicht vermißt werden würde. Jemand aus dem Ensemble hätte sich auch nicht hereinschleichen müssen, ich bezweifle übrigens, daß es jemand anderem möglich gewesen sein soll, unbemerkt hereinzukommen. Vermutlich hätte wenigstens einer von euch bemerkt, wenn jemand den Seiteneingang neben der Bühne benutzt hätte …« Die anderen konnten nicht anders, als synchron mit dem Kopf zu nicken.
»Außerdem habe ich herausgefunden, daß auch drei andere aus dem Ensemble mit von der Partie beim Australian Travelling Showpark gewesen sind. Das heißt, daß es dort heute noch drei andere Personen gegeben hat, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren. Vielleicht war Otto ganz einfach ein unschuldiger Mann, der zu viel wußte? Laßt uns da anfangen zu suchen, wo wir auch eine Chance haben, etwas zu finden. Ich schlage vor, daß wir mit dem Ensemble beginnen, statt einem Phantom der Oper nachzujagen, das längst über alle Berge ist.«
Wadkins schüttelte den Kopf.
»Wir können nicht einfach die Fakten vergessen – eine unbekannte Person hat in einer Verkleidung, die neben der Mordwaffe aufbewahrt wurde, den Tatort verlassen. Es ist kaum möglich, daß diese Person nichts mit dem Mord zu tun hat.«
Harry stimmte ihm zu:
»Ich glaube, wir können die anderen im Ensemble vergessen. Erstens gibt es keinen Beweis, daß Otto nicht der gesuchte Vergewaltiger und Mörder all dieser Mädchen gewesen sein kann. Es kann viele Gründe dafür geben, warum jemand einem Serienmörder den Garaus machen möchte. Der Betroffene kann, zum Beispiel, auf irgendeine Weise da mit drin stecken. Vielleicht wußte er, daß Otto im Begriff war, von der Polizei gefaßt zu werden, und wollte ganz einfach nicht riskieren, von Otto durch ein Geständnis mit hineingezogen zu werden. Zweitens ist es nicht sicher, daß der Mörder wirklich wußte, wieviel Zeit er hatte – er kann Otto gezwungen haben, ihm zu sagen, wann er wieder auf die Bühne mußte. Und drittens: Hört doch mal auf eure Gefühle!«