Er stand auf und schaute nach oben. Andrew war nicht ausgetauscht worden. Harry glaubte, ein paar Schritte vorgehen und den Stuhl wieder aufrichten zu müssen, damit Andrew auf etwas stehen konnte, wenn sie ihn abschnitten, aber er konnte sich nicht bewegen. Er stand noch immer so da, als Lebie mit einem Küchenmesser ins Zimmer kam. Als Lebie ihn so merkwürdig anschaute, bemerkte Harry, daß warme Tränen über seine Wangen rollten.
Mein Gott, ist das nicht schlimmer, dachte Harry verwundert.
Ohne etwas zu sagen, schnitten sie Andrew ab, legten ihn auf den Boden und durchsuchten seine Taschen. Er hatte zwei Schlüsselbunde bei sich, einen kleinen und einen größeren, sowie einen losen Schlüssel, der, wie Lebie sogleich überprüfte, zur Eingangstür paßte.
»Keine Zeichen für äußere Gewalteinwirkung«, sagte Lebie nach flüchtiger Überprüfung.
Harry knöpfte Andrews Jacke auf. Auf seine Brust war ein Krokodil tätowiert. Harry schob auch die Hosenbeine hoch und überprüfte die Beine.
»Nichts«, sagte er, »überhaupt gar nichts.«
»Wir müssen warten, was der Arzt sagt«, brummte Lebie.
Harry spürte wieder, wie die Tränen kamen und zuckte nur mit den Schultern.
Sie schoben sich durch den Vormittagsstau zurück zur Dienststelle.
»Merde«, schrie Lebie und drückte wütend auf die Hupe.
Harry hatte The Australian in der Hand, der Clownsmord nahm die ganze Titelseite ein. »In seiner eigenen Todesmaschine zerhackt«, stand unter dem Bild der blutigen Guillotine. Ein kleineres Bild zeigte Otto Rechtnagel im Clownskostüm, es war das Bild aus dem Programmheft.
Die Reportage war in einem leichten, fast humoristischen Ton gehalten, vermutlich aufgrund des bizarren Charakters des Falles. »Aus unerklärlichen Gründen ließ der Mörder den Kopf des Clowns am Körper«, schrieb der Reporter, der weiterhin schloß, daß der Mord sicher nicht stellvertretend für die generelle Einstellung des Publikums gewesen sei: »… so schlecht sei die Vorstellung nämlich nicht gewesen«. Etwas säuerlich lobte er die Polizei dafür, ungewöhnlich schnell am Tatort gewesen zu sein. »Aber trotzdem hatte Kriminalchef Wadkins von der Polizei in Sydney keine weitergehenden Kommentare abzugeben, als daß die Polizei die Mordwaffe sichergestellt habe …« Harry las laut vor.
»Sehr witzig«, sagte Lebie, hupte und zeigte einem Taxifahrer, der sich vor ihnen auf ihre Spur schob, den Finger. »Your mother is a …!«
»Diese Nummer, in der der Kerl den Vogel jagt …«
Der Satz blieb unvollendet zwischen zwei Ampeln hängen.
»You said …«, fragte Lebie.
»Nein, nichts. Ich habe mich nur über diese eine Nummer gewundert, sie macht irgendwie keinen Sinn. Ein Jäger, der glaubt, einen Vogel zu jagen und plötzlich entdeckt, daß seine Beute eine Katze ist, also etwas, das selbst Vögel jagt. Soweit ist es klar, aber was soll das bedeuten?«
»Such my hairy, sorry potato ass, you pigfucker …«
Es war das erste Mal, daß Lebie in Harrys Gegenwart so viele Worte verlor.
Wie Harry erwartet hatte, war auf der Dienststelle die Hölle los.
»Es steht bei Reuters«, sagte Yong. »AP will einen Fotografen vorbeischicken, und das Büro des Bürgermeisters hat angerufen und uns mitgeteilt, daß NBC ein Fernsehteam herüberfliegen lassen will, um eine Story zu machen.«
Wadkins schüttelte den Kopf.
»Sechstausend Menschen kommen bei einer Springflut in Indien ums Leben und werden in einer kurzen Notiz erwähnt. Aber wenn ein schwuler Clown ein paar Glieder verliert, ist das eine Weltsensation.«
Harry bat die anderen ins Besprechungszimmer. Er schloß die Tür.
»Andrew Kensington ist tot«, sagte er.
Wadkins und Yong schauten ihn entgeistert an. Kurz und ohne Umschweife erzählte Harry, daß sie Andrew in Otto Rechtnagels Wohnung erhängt an der Decke gefunden hatten.
Er schaute ihnen direkt in die Augen und seine Stimme war fest: »Wir haben das nicht telefonisch weitergegeben, um sicher zu sein, daß nicht die falschen Leute davon erfahren. Vielleicht sollten wir versuchen, das vorerst geheimzuhalten.«
Es wurde ihm klar, daß es ihm leichter fiel, darüber zu reden, wenn er es als Polizeifall betrachtete. Dann wurde es zu etwas Konkretem, mit dem er umzugehen wußte. Eine Leiche, eine Todesursache und ein Handlungsverlauf, den sie aufzudecken hatten. Das schob den Tod – dieses fremde Etwas, von dem er nicht wußte, wie er ihm begegnen sollte – für eine Weile beiseite.
»Okay«, sagte Wadkins verwirrt. »Nur ruhig jetzt. Wir dürfen nun keine vorschnellen Schlüsse ziehen!«
Er wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. »Lassen Sie mich McCormack holen. Scheiße. Verdammte Scheiße, Kensington, was hast du gemacht? Wenn die Presse Wind davon bekommt …« Wadkins verschwand durch die Tür.
Die drei anderen blieben sitzen und lauschten dem Klagelied des Ventilators.
»Er arbeitete hier in der Mordkommission ja ein bißchen von Fall zu Fall«, sagte Lebie. »So gesehen war er eigentlich nicht so richtig einer von uns, aber trotzdem …«
»Ein netter Kerl«, sagte Yong und blickte zu Boden. »Ein netter Kerl, er war für mich da, als ich hier angefangen habe, er war … ein netter Kerl.«
McCormack verordnete Stillschweigen. Es gefiel ihm gar nicht, er stampfte die zwei Schritte in dem Besprechungszimmer noch schwerer als sonst hin und her, und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einem grauen Tiefdruckgebiet über seinem Nasenrücken zusammen.
Nach der Besprechung setzte sich Harry an Andrews Schreibtisch und ging seine Aufzeichnungen durch. Er konnte nicht viel daraus entnehmen, nur einige Adressen, ein paar Telefonnummern, die, wie sich herausstellte, zu Autowerkstätten gehörten, und ein paar unverständliche Kritzeleien auf einem Blatt Papier. Die Schubladen waren, abgesehen von ein bißchen Büromaterial, leer. Danach schaute sich Harry die beiden Schlüsselbunde an, die sie bei Andrew gefunden hatten. Der eine trug am Anhänger Andrews Initialen, also ging er davon aus, daß es sich hierbei um Andrews private Schlüssel handeln mußte.
Er nahm den Hörer ab und rief zu Hause bei Birgitta an. Sie war schockiert, stellte ein paar Fragen, ließ aber eigentlich Harry reden.
»Ich begreife nicht«, sagte Harry, »daß ich weinen muß wie ein Kind, wenn ein Typ stirbt, den ich gerade erst einmal eine Woche kenne, ich mir aber beim Tod meiner Mutter nicht eine einzige Träne herauspressen konnte. Meine Mutter, die beste Frau der Welt! Während dieser Typ … ich weiß nicht einmal, wie gut wir uns eigentlich kannten. Wo ist da die Logik?«
»Logik«, sagte Birgitta. »Das hat wohl nichts mit Logik zu tun. Außerdem kann man sich nicht so sehr auf die Logik verlassen, wie das die Menschen gerne hätten.«
»Nun, ich wollte nur, daß du es weißt. Behalte es für dich. Kriege ich heute abend, wenn du fertig bist, Besuch?«
Sie zögerte. Sie erwartete in der Nacht ein Telefonat aus Schweden, von ihren Eltern.
»Ich habe Geburtstag«, sagte sie.
»Herzlichen Glückwunsch.«
Harry legte auf. Er spürte, wie ein alter Feind in seinem Magen knurrte.
Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten Lebie und Harry Andrew Kensingtons Wohnung. Sie lag an der Sydney Road in Chatwick, einer netten Straße in einem gemütlichen Vorstadtviertel.
»Mein Gott, sind wir hier richtig?« fragte Harry, als sie vor der Hausnummer anhielten, die ihnen von der Personalabteilung genannt worden war. Es war eine große, steinerne Villa mit Doppelgarage und einem gepflegten Vorgartenrasen mit Springbrunnen. Ein Kiesweg führte zu einer beeindruckenden Mahagonitür. Ein kleiner Junge öffnete die Tür, als sie klingelten. Er nickte ernsthaft, als sie nach Andrew fragten, zeigte auf sich selbst und legte eine Hand auf seinen Mund, so daß sie verstanden, daß er stumm war. Dann führte er sie zur Rückseite des Hauses und zeigte auf ein kleines, niedriges Häuschen auf der anderen Seite des riesigen Gartens. Bei einem englischen Gut wäre es wohl als Gärtnerhäuschen bezeichnet worden.