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Harry atmete ein paarmal tief ein und aus.

»Entschuldigen Sie, wenn ich mich so ausdrücke … wenn ich frech gewirkt habe … Doktor, aber mein Englisch ist nicht immer so …«

»… wie es sein sollte«, beendete Engelssohn seinen Satz.

»Genau. Sie sind ganz ohne Zweifel ein sehr beschäftigter Mann, Doktor, ich will Sie also nicht noch länger stören, ich brauche nur noch Ihre Bestätigung dafür, daß Sie verstanden haben, daß Mr. McCormack darum gebeten hat, den Obduktionsbericht nicht über den üblichen Dienstweg, sondern persönlich zugestellt zu bekommen.«

»Das geht wohl kaum. Diesbezüglich habe ich klare Vorschriften, Horgan. Das können Sie McCormack gerne mit den besten Grüßen ausrichten.«

Der kleine, verrückte Professor stand breitbeinig und selbstsicher mit verschränkten Armen vor Harry. Seine Augen glänzten jetzt kampfbereit.

»Vorschriften? Ich weiß nicht, welchen Stellenwert die Vorschriften bei der Polizei in Sydney haben, aber dort, wo ich herkomme, sind die Vorschriften dazu da, daß die Menschen auch dann wissen, was sie zu tun haben, wenn sie keine Anweisungen von ihren Vorgesetzten bekommen haben«, sagte Harry.

»Vergessen Sie das, Horgan. Berufsethik hat bei Ihnen wohl kaum einen sonderlich hohen Stellenwert, ich glaube also nicht, daß man mit Ihnen eine auch nur ansatzweise fruchtbare Diskussion über dieses Thema führen könnte. Sollen wir es nicht dabei belassen und uns ›Auf Wiedersehen‹ sagen, Mr. Horgan?«

Harry blieb stehen.

»Oder was meinen Sie?« fragte Engelssohn ungeduldig.

Harry sah einen Mann vor sich, der glaubte, nichts mehr verlieren zu können. Ein alkoholabhängiger, mittelaltriger und ebenso mittelmäßiger Gerichtsmediziner, der keine Hoffnungen oder Erwartungen mehr an seine Karriere hatte und der deshalb auch vor nichts und niemandem Angst hatte.

Denn was konnte ihm denn noch widerfahren? Hinter Harry lag der längste und schlimmste Tag seines Lebens. Und er hatte die Schnauze voll. Er packte den weißen Kittelkragen des Arztes und hob ihn an.

Es knackte in einigen Nähten.

»Was ich meine? Ich meine, wir sollten mal eine Blutprobe von Ihnen nehmen und dann anschließend über die Berufsethik sprechen, Mr. Engelssohn. Ich meine, wir sollten einmal darüber reden, wer alles bestätigen kann, daß Sie stinkbesoffen waren, als Sie Inger Holter obduzierten. Und dann denke ich, sollten wir mit jemandem reden, der an einem Ort arbeitet, wo die Berufsethik wirklich einen hohen Stellenwert hat, jemandem, der Sie feuern kann, nicht nur aus dieser Stellung hier, sondern aus jedem Job, für den Sie eine Arztlizenz benötigen. Was meinen Sie, Doktor Engelssohn? Was halten Sie jetzt von meinem Englisch?«

Doktor Engelssohn war der Meinung, Harrys Englisch sei ausgezeichnet, und nachdem er kurz nachgedacht hatte, schien es ihm dieses eine Mal auch möglich zu sein, den Dienstweg zu umgehen.

13

Der Zehner im Frognerbad, und ein alter Feind erwacht

McCormack hatte Harry wieder den Rücken zugedreht und schaute aus dem Fenster. Draußen ging die Sonne unter, aber noch immer schimmerte das verlockende blaue Meer zwischen den Wolkenkratzern und dem quietschgrünen Royal Botanical Garden hindurch. Harry hatte einen trockenen Mund und pochende Kopfschmerzen. Er hatte fast ohne Unterbrechung einen fünfundvierzig Minuten langen Monolog gehalten. Über Otto Rechtnagel, Andrew Kensington, Heroin, The Cricket, den Beleuchter, Engelssohn – einfach über alles, was geschehen war.

McCormack legte die Fingerkuppen gegeneinander. Er hatte schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt.

»Wußten Sie, daß weit dort draußen, in Neuseeland, die dümmsten Menschen der Welt wohnen? Sie wohnen ganz für sich auf einer Insel, ohne Nachbarn, die einen Grund haben könnten, sie zu quälen, nur unendlich viel Wasser. Trotzdem haben die Menschen dort in diesem Jahrhundert an allen großen Kriegen teilgenommen, die es nur gab. Kein anderes Land, nicht einmal die Russen, haben während des Zweiten Weltkriegs prozentual zur Bevölkerung so viele junge Menschen verloren. Der Frauenüberschuß auf Neuseeland wurde fast zur Legende. Und warum all diese Kriegsspielerei? Um zu helfen. Um anderen zur Seite zu stehen. Diese harmlosen Trottel haben nicht einmal auf eigenem Grund und Boden gekämpft, nein, sie hockten sich in Schiffe und Flugzeuge, um so weit entfernt wie nur möglich zu sterben. Sie halfen den Alliierten gegen die Deutschen und Italiener, den Südkoreanern gegen die Nordkoreaner und den Amerikanern erst gegen die Japaner und dann gegen die Nordvietnamesen. Mein Vater war einer von diesen hilfsbereiten Trotteln.«

Er drehte sich um und blieb von Angesicht zu Angesicht vor Harry sitzen.

»Mein Vater hat mir eine Geschichte über einen Kanonenschützen auf seinem Schiff erzählt. Im Krieg der Amerikaner gegen die Japaner 1945 bei Okinawa. Die Japaner hatten mit den Kamikaze-Fliegern begonnen, die in einer eigenen Taktik und in einer Formation angriffen, die sie ›Mohnblätter, die vom Himmel fallen‹ nannten. Und genauso machten sie es. Zuerst kam ein Flugzeug, und wenn das abgeschossen wurde, kamen zwei andere nach, und danach vier und so weiter in einer schier endlosen Pyramide herabstürzender Flugzeuge. Alle an Bord des Schiffes, auf dem auch mein Vater war, waren vollkommen entsetzt. Das war doch der blanke Wahnsinn, Piloten, die freiwillig in den Tod gingen, nur um sicher zu sein, daß ihre Bombenlast dort landete, wo sie hin sollte. Die einzige Möglichkeit, sie aufzuhalten, war ein möglichst dichtes Flak-, ein Sperrfeuer aus Flugabwehrkanonen. Ein noch so kleines Loch in dieser Sperre, und die Japaner waren über ihnen. Jedes Flugzeug mußte, nachdem es in Reichweite war, innerhalb von zwanzig Sekunden abgeschossen sein, ansonsten hätte das ihr Ende bedeutet, denn vermutlich wäre es dem Piloten gelungen, auf das Schiff zu stürzen. Die Flakschützen wußten, daß jeder Schuß treffen mußte, und manchmal dauerten die Luftangriffe den ganzen Tag. Mein Vater hat mir das gleichmäßige Dröhnen der Kanonen und das hohe, schrille Pfeifen der im Sturzflug herunterrasenden Flugzeuge beschrieben. Er sagte, er habe dieses Geräusch sein ganzes Leben lang jede Nacht aufs neue gehört.

Am letzten Tag des Angriffs hatte er auf der Brücke gestanden, als sie sahen, daß es einem der Flugzeuge gelungen war, das Sperrfeuer zu durchdringen und dieses geradewegs auf sie zu stürzte. Die Schiffskanonen donnerten los, während sich das Flugzeug langsam näherte. Es schien still am Himmel zu stehen und lediglich von Sekunde zu Sekunde ein wenig zu wachsen. Schließlich konnten sie deutlich das Cockpit und darin die Umrisse eines Piloten erkennen. Die Granaten des Flugzeugs begannen gerade in das Deck einzuschlagen, als die ersten Flakgranaten des Schiffes trafen. Sie zerfetzten die Flügel und den Rumpf des Flugzeuges. Das Heck flatterte weg und ganz langsam, wie in Zeitlupe, löste sich das Flugzeug in seine Bestandteile auf. Schließlich klatschte nur ein kleiner Teil des Propellers mit einem Schweif aus Feuer und Rauch auf das Deck. Die anderen Flakschützen waren bereits wieder dabei, ein neues Ziel anzuvisieren, als einer aus der Flakstation unterhalb der Brücke, ein junger Korporal, den Vater kannte, weil er wie er aus Wellington stammte, aufstand, herauskletterte, Vater lächelnd zuwinkte und sagte: ›Es ist heiß heute.‹ Mit diesen Worten sprang er über die Reling und verschwand.«

Vielleicht war es das Licht, aber Harry schien es, als wenn McCormack mit einem Mal alt aussehe.

»Es ist heiß heute«, wiederholte McCormack.

»Die Natur des Menschen ist ein großer, dunkler Wald, Sir

McCormack nickte.

»Das habe ich früher schon einmal gehört, Holy, und das ist verdammt wahr. Sie haben sich gut kennengelernt, Kensington und Sie, soviel habe ich begriffen. Und auch, daß einige fordern, daß Andrew Kensingtons Rolle in diesem Fall untersucht wird. Was meinen Sie, Holy?«

Harry blickte auf seine dunkle Hose hinab. Sie war verknittert von der langen Zeit im Koffer, und die Bügelfalte war schief. Die Beerdigung sollte um zwölf Uhr stattfinden.