»Hattet ihr denn keinen Funkkontakt zur Bodenstation? Konnten die euch nichts von den tieferen Wolkenschichten sagen?«
»Funk, ja. Hä-hä. Das war auch etwas, was später totgeschwiegen wurde, denn der Pilot ließ immer in voller Lautstärke Stones laufen, wenn wir uns den 10.000 Fuß näherten, sozusagen um die Schüler anzuheizen, sie ein bißchen aggressiv zu machen und ihnen die Scheißangst zu nehmen. Wenn sie etwas per Funk durchgegeben haben, dann haben wir es ganz sicher nicht gehört.«
»Habt ihr denn nicht noch einmal einen letzten Check mit der Kontrollstation am Boden durchgeführt, bevor ihr gesprungen seid?«
»Harry, mach die Geschichte nicht noch schwieriger, als sie schon ist, okay?
Das andere, was schieflief, war das Problem mit dem Höhenmesser. Der muß auf Null gestellt werden, bevor das Flugzeug abhebt, so daß er die relative Höhe über dem Boden anzeigt. Kurz bevor wir springen wollten, bemerkte ich, daß ich meinen Höhenmesser vergessen hatte, aber der Pilot hatte immer eine volle Springerausrüstung im Flugzeug, also lieh ich mir seine. Er befürchtete ebenso wie wir, daß das Flugzeug eines Tages einfach auseinanderfallen würde. Wir waren schon auf 10.000 Fuß Höhe, als der Pilot die Stones-Musik abdrehte und im Funk hörte, daß tiefe Wolken im Anmarsch waren, nicht, daß sie bereits hereingetrieben waren. Deshalb hatten wir es plötzlich eilig. Ich mußte mich beeilen, auf die Tragfläche zu kommen und kam nicht mehr dazu, meinen Höhenmesser mit dem des Schülers abzugleichen. Natürlich hatte ich am Boden überprüft, daß er ihn auf Null gestellt hatte. Ich rechnete ja damit, daß der Höhenmesser des Piloten in etwa das gleiche anzeigte, auch wenn der nicht bei jedem Start korrigiert wurde. Aber wie auch immer, ich machte mir deshalb jedenfalls keine großen Sorgen. Wenn du erst einmal, so wie ich, mehr als 5000 Sprünge hinter dir hast, entwickelst du einen ziemlich genauen Blick für die Höhe.
Wir standen auf den Tragflächen. Der Schüler hatte schon drei recht gute Sprünge hinter sich, und deshalb machte ich mir keine Gedanken. Es gab auch keine Probleme beim Absprung. Wir gingen in die X-Stellung, und er lag gut und stabil, als wir durch die erste Wolkendecke fielen. Ich erschrak etwas, als ich die neuerliche Wolkendecke unter uns sah, aber ich dachte, daß wir einfach unsere Übungen machen sollten und kontrollieren, wie hoch wir waren, wenn wir uns den Wolken näherten. Der Schüler machte ein paar Neunzig- Grad-Drehungen und einige saubere horizontale Verschiebungen, bevor wir wieder die X-Stellung einnahmen. Mein Höhenmesser zeigte 6000 Fuß, als der Schüler begann, nach der Reißleine zu suchen, also signalisierte ich ihm zu warten. Er sah mich an, aber es ist nicht so leicht, die Gesichtszüge eines Menschen zu lesen, dessen Wangen und Lippen ihm um die Ohren flattern wie die Wäsche auf einer sturmgepeitschten Leine.«
Joseph hielt inne und nickte zufrieden.
»Wäsche auf einer sturmgepeitschen Leine«, wiederholte er. »Das war, verdammt noch mal, nicht schlecht gesagt, Prost.«
Der Boden der Flasche zeigte zum Himmel.
»Mein Höhenmesser zeigte 5000 Fuß an, als wir die Wolkendecke erreichten«, fuhr er fort, als er wieder Luft geschnappt hatte.
»Noch 1000 Fuß, bis wir die Reißleine ziehen sollten. Ich hielt den Schüler fest und behielt meinen Höhenmesser im Auge, für den Fall, daß es eine dicke Wolkenschicht war und wir den Schirm in den Wolken öffnen mußten, aber wir waren sofort wieder draußen. Ich spürte, wie mein Herz zusammenzuckte, als ich den Boden auf uns zurasen sah, Bäume, Gras, Asphalt, das alles war wie ein schneller Zoom mit einer Kamera. Ich riß sofort für uns beide die Leine. Wenn bei einem von uns der Hauptschirm einen Funktionsfehler gehabt hätte, dann hätte es niemals mehr für den Ersatzschirm gereicht. Es zeigte sich nämlich, daß die untere Wolkenschicht auf etwa 2000 Fuß gelegen hatte. Die Leute am Boden sind verdammt blaß geworden, als sie uns ohne Schirm aus den Wolken rasen sahen. Dieser dusselige Schüler kriegte zu allem Überfluß dann auch noch Panik, obwohl sich der Schirm geöffnet hatte, und steuerte mit Erfolg in einen Baum. Das ging eigentlich ganz gut, aber er blieb vier Meter über dem Boden hängen, und statt zu warten, bis Hilfe kam, löste er sich aus dem Schirm, stürzte zu Boden und brach sich ein Bein. Er verklagte mich und behauptete, ich hätte nach Alkohol gerochen, und der Verbandsvorstand entschied, mich auf Lebenszeit auszuschließen.«
Joseph erledigte auch Flasche Nummer zwei.
»Was ist danach geschehen, Joseph?«
Er warf die Flasche zur Seite.
»Das hier. Stütze, falsche Kameraden und Wein.« Er hatte begonnen, ein wenig zu lallen. »Sie brachen mir die Flügel, Harry. Ich bin ein Abkomme des Krähenvolkes, ich bin nicht dafür geschaffen, wie ein Emu zu leben.«
Die Schatten im Park waren zusammengekrochen, doch jetzt begannen sie wieder, länger zu werden. Harry wachte davon auf, daß Joseph über ihm stand.
»Ich geh jetzt nach Hause, Harry. Du brauchst vielleicht ja noch einige von den Sachen, die in der Laube liegen, oder?«
»Oh, Scheiße, meine Pistole und die Jacke.«
Harry stand auf. Es war höchste Zeit für einen Drink. Nachdem Joseph das Gartenhäuschen abgeschlossen hatte, blieben sie noch einen Augenblick unschlüssig draußen stehen.
»Du rechnest also damit, bald nach Norwegen zurückzukehren?« fragte Joseph.
»Oh, any day now.«
»Ich hoffe, du erreichst beim nächsten Mal dein Flugzeug.«
»Ich wollte heute nachmittag mal die Fluggesellschaft anrufen. Und mich im Büro melden. Die fragen sich bestimmt, wo ich stecke.«
»Verdammt«, sagte Joseph und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Er kramte wieder die Schlüssel hervor. »Ich glaube, in diesem Rotwein ist zu viel Gerbsäure. Der ätzt mir die Gehirnzellen weg. Ich kann mich nie daran erinnern, ob ich das Licht ausgemacht hab, und der Wachmann wird immer stinkwütend, wenn er kommt und das Licht noch an ist.«
Er schloß die Tür auf. Das Licht war aus.
»Hä-hä. Du weißt, wie das ist, wenn man einen Ort so in- und auswendig kennt, laufen Bewegungen wie Lichtausschalten völlig automatisch ab, man denkt einfach nicht mehr darüber nach. Und deshalb erinnert man sich verdammt noch mal nicht daran, ob man … is was, Harry?«
Harry war erstarrt und blickte Joseph bestürzt an.
»Das Licht«, sagte er bloß, »das Licht war aus.«
Der Wachmann des St. George-Theaters schüttelte verständnislos den Kopf und schenkte Harry Kaffee nach.
»So etwas h-habe ich noch n-nie gesehen. Es ist jeden Abend brechend voll. Wenn sie die Nummer mit der Guillotine machen, sind die Leute richtig hysterisch, sie schreien und machen die wildesten Gebärden. Inzwischen steht d-d-das sogar schon auf dem Plakat: ›Die Todesguillotine – bekannt aus Zeitung und Fernsehen – sie tötet nicht zum ersten Mal …‹ Die N-N-Nummer ist jetzt der totale Hit. Wirklich merkwürdig.«
»Wirklich merkwürdig. Die haben also einen Ersatz für Otto Rechtnagel gefunden und spielen genau das gleiche Programm?«
»Mehr oder weniger, ja. Früher waren die ja nicht annähernd so erfolgreich.«
»Wie ist das mit der Nummer, in der die Katze erschossen wird?«
»Die haben sie gestrichen. Die kam irgendwie nicht an.«
Harry rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Unter seinem Hemd rann ihm der Schweiß.
»Nein, ich habe auch nicht ganz begriffen, was sie mit dieser Nummer wollten …?«
»Das war Rechtnagels eigene Idee. Ich habe mich in meiner Jugend selbst einmal als Clown versucht. Es macht mir deshalb Spaß, zu verfolgen, was auf der Bühne passiert, wenn wir einen Zirkus hier haben, und ich erinnere mich, daß diese Nummer erst bei der letzten Probe vor dem Unglück dabei war.«
»Ich hab mir schon gedacht, daß Otto damit zu tun hatte, ja.«
Er kratzte sich an seinem frischrasierten Kinn.
»Eine Sache beschäftigt mich besonders, und ich frage mich, ob Sie mir da vielleicht helfen können. Es gibt auf der Erde ja alles mögliche, aber hören Sie sich erst einmal meine Theorie an, und sagen Sie mir dann, was Sie meinen: Otto weiß, daß ich im Publikum sitze, und er weiß etwas, das ich nicht weiß, das er mir aber irgendwie klarmachen will. Aber er kann es nicht offen sagen. Aus vielerlei Gründen. Vielleicht, weil er selbst damit zu tun hat. Also, diese Nummer ist auf mich zugeschnitten. Er will mir sagen, daß derjenige, den ich jage, selbst der Jäger ist, einer wie ich, ein Kollege. Ich weiß, das hört sich etwas zurechtgebastelt an, aber Sie wissen ja, wie exzentrisch Otto sein konnte. Was meinen Sie? Würde das zu ihm passen?«