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Der Wachmann schaute Harry lange an.

»Konstabel, ich glaube, Sie brauchen noch einen Kaffee. Die Nummer hatte überhaupt keine Verbindung zu Ihnen. Das ist eine klassische J-J-Jandy Jandaschewsky-Nummer, das kann Ihnen jeder, der etwas vom Zirkus versteht, bestätigen. Nicht mehr und nicht weniger. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen damit eine T-T-Theorie vermassel, aber …«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Harry erleichtert. »So etwas hatte ich im stillen gehofft. Dann kann ich diese Theorie wirklich fallenlassen. Sie sagten, Sie hätten noch einen Kaffee?«

Er bat darum, die Guillotine sehen zu dürfen, und der Wachmann führte ihn in den Requisitenraum.

»Mir läuft immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich hier reinkomme, aber inzwischen kann ich nachts wenigstens wieder schlafen«, sagte der Wachmann und schloß die Tür auf. »Wir haben den Raum zwei Tage lang geschrubbt.«

Ein kalter Hauch kam ihnen aus dem Zimmer entgegen, als sie die Tür öffneten.

»Los, anziehen«, sagte der Wachmann und knipste das Licht an. Die Guillotine thronte in der Mitte des Raumes. Sie war mit einer Decke verhüllt und sah aus wie eine schlafende Diva.

»Los, anziehen?«

»Oh, nur ein Scherz hier im Haus. Wir pflegen das hier im St. George-Theater zu sagen, bevor wir einen d-d-dunklen Raum betreten.«

»Warum das denn?« Harry schob die Decke zur Seite und fuhr mit dem Daumen über die Klinge der Guillotine.

»Oh, das ist eine alte dumme Geschichte aus den Siebzigern. Unser Chef war damals ein Belgier, Albert Mosceau, ein temperamentvoller Mann, aber wir als Angestellte kamen gut mit ihm zurecht, ein echter Theatermensch, bless his soul. Die Leute behaupten ja, daß die Theatermenschen üble Schürzenjäger und L-Libertins sind, und da ist vielleicht ja sogar etwas Wahres dran. Ich sage nur, wie es ist. Es gab jedenfalls damals einen etablierten guten Schauspieler im Ensemble, ich w-w-will keine Namen nennen, der sich als rechter … der ein verdammt geiler Bock war. Die Frauen wurden schwach, und die Männer fluchten und waren eifersüchtig. Wir haben damals ab und zu Führungen gemacht, wenn Gäste das Theater sehen wollten. Eines Tages betrat der Führer der Besichtigung zusammen mit einer Schulklasse den Requisitenraum. Er schaltete das Licht an – und da lag unser geiler Bock auf einem Rokokosofa, das wir für eine Aufführung brauchten, und bearbeitete eine der Kantinenfrauen.

Natürlich hätte die Aufsicht die Situation retten können, denn der bekannte Schauspieler, ich nenne keinen Namen, hatte ihnen den Rücken zugedreht. Aber die Führung machte ein junger Kerl, der selbst hoffte, eines Tages Schauspieler zu werden und der noch dazu, wie die meisten Theaterleute, ein eitler Fatzke war. Deshalb trug er keine Brille, obwohl er sehr kurzsichtig war.

Er sah einfach nicht, was da auf dem Rokokosofa vor sich ging und glaubte wohl, daß sich alle wegen seiner spannenden Erläuterungen plötzlich in den Raum drängten. Als er nicht aufhörte, seine Informationen abzuspulen, fluchte der alte Bock lauthals, achtete aber peinlich genau darauf, nicht sein Gesicht, sondern nur seinen behaarten Arsch zu zeigen. Aber die Aufsicht erkannte ihn an der Stimme und sagte laut: ›Aber was machen Sie denn hier, Bruce Lieslington?‹«

Der Wachmann biß sich auf die Unterlippe.

»Oh-Scheiße …«

Harry lachte laut und hob beschwichtigend die Hände: »Ist schon okay, ich hab den Namen bereits vergessen.«

»Jedenfalls berief Mosceau am nächsten Tag eine allgemeine Versammlung ein. Er erklärte kurz, was geschehen war, und sagte, daß er diesen Vorfall sehr ernst nehme. ›Wir können diese Art von Publicity nicht gebrauchen‹ sagte er. ›Deshalb sehe ich mich gezwungen, solche Führungen fortan nicht mehr anzubieten.‹«

Das Lachen des Wachmanns hallte an den Wänden des Requisitenraums wider. Harry mußte lächeln. Nur die ruhende Diva aus Stahl und Holz war noch immer genauso still und unnahbar.

»Jetzt verstehe ich, warum ihr ›los, anziehen‹ ruft! Was ist aus dem unglückseligen Besichtigungsleiter geworden? Hat er es zum Schauspieler gebracht?«

»Zu seinem Bedauern, aber zur großen Freude der Theaterszene: n- nein. Aber er ist noch immer in der Branche. Er arbeitet heute als Beleuchter hier im St. George's, aber – das habe ich ja ganz vergessen – Sie haben doch mit ihm gesprochen.«

Harry zog langsam die Luft ein. Es knurrte und zuckte in seinen Gelenken dort unten. Scheiße, Scheiße, warum mußte es hier so heiß sein?

»Ja, ja, das ist richtig. Er trägt heute wohl Kontaktlinsen, nicht wahr?«

»Fehlanzeige! Er behauptet, er könne besser arbeiten, wenn er die Bühne leicht unscharf sehe. Daß er sich dann besser auf das Ganze konzentrieren könne und sich nicht von irgendwelchen Details ablenken lasse. Das ist schon ein m-merkwürdi-ger Kauz.«

»Ein merkwürdiger Kauz«, wiederholte Harry.

16

Tote Känguruhs, eine Perücke und eine Beerdigung

Kristin war vor ein paar Jahren zurück nach Oslo gezogen. Über Freunde hatte Harry erfahren, daß sie eine zweijährige Tochter hatte, ihren Engländer aber in London gelassen hatte. Und eines Abends hatte er sie dann im Sardine's getroffen. Als er sich ihr genähert hatte, konnte er sehen, wie verändert sie war. Die Haut war blaß, und ihr Haar hing ihr leblos ins Gesicht. Als sie auf ihn aufmerksam wurde, verzerrte sich ihr Gesicht zu einer Art angestrengtem Lächeln. Er begrüßte Kjartan, einen »befreundeten« Musiker, den er wiederzuerkennen glaubte. Sie redete schnell und zusammenhanglos über alle möglichen unwichtigen Dinge und ließ Harry keine Gelegenheit, die Fragen zu stellen, die sie von ihm erwartete. Dann redete sie über Zukunftspläne, aber in ihren Augen war kein Feuer, und die wild gestikulierenden Arme der Kristin, die er kannte, waren jetzt langsam und apathisch.

Irgendwann glaubte Harry zu erkennen, daß sie weinte, aber da war er bereits so voll, daß er es nicht mit Sicherheit sagen konnte.

Kjartan war gegangen, tauchte dann noch einmal auf, flüsterte ihr etwas ins Ohr und löste sich dann mit einem überlegenen Lächeln, das Harry galt, aus ihrer Umarmung. Dann waren alle gegangen, und Harry und Kristin hockten zwischen zerknüllten Zigarettenpackungen und Glassplittern allein in dem leeren Lokal, bis sie vor die Tür gesetzt wurden. Es war nicht ganz klar, wer wen auf dem Weg nach draußen gestützt hatte und von wem der Vorschlag gekommen war, in ein Hotel zu gehen. Jedenfalls waren sie zu guter Letzt im Savoy gelandet, wo sie kurzen Prozeß mit der Minibar machten und dann ins Bett krochen. Harry hatte pflichtbewußt einen vergeblichen Versuch unternommen, sie zu vögeln, aber es war zu spät. Natürlich war es zu spät. Kristin hatte ihren Kopf in den Kissen begraben und heftig geweint. Als er aufgewacht war, hatte Harry sich aus dem Zimmer geschlichen und war mit einem Taxi in ein Cafe gefahren, das eine Stunde vor den anderen Löchern öffnete. Er hatte dagehockt und gespürt, wie sehr es zu spät war.

»Ja?«

»Sorry, daß ich so spät anrufe, Lebie, hier ist Harry Hole.«

»Holy, so eine Überraschung, wie spät es ist jetzt in Norwegen?«

»Weiß ich nicht. Hör mal, ich bin nicht in Norwegen. Es hat ein paar Probleme mit dem Flugzeug gegeben.«

»Was denn?«

»Es flog ein bißchen zu früh, um es so zu sagen, und es ist gar nicht so leicht, einen neuen Flug zu buchen. Ich brauche bei ein paar Sachen Hilfe.«