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Es wurde still.

»Glauben Sie, daß Andrew Kensington ermordet worden ist?« fragte Wadkins. »Und wenn ja, wie?«

»Ich glaube, daß man ihn zuerst gezwungen hat, sich eine Überdosis Heroin zu spritzen, vermutlich mit gezückter Pistole.«

»Warum kann er sich das nicht freiwillig gespritzt haben, bevor er dorthin kam?« fragte Yong.

»Erstens glaube ich nicht, daß ein so routinierter Junkie wie Andrew sich plötzlich eines Tages per Zufall eine Überdosis spritzt. Außerdem hatte Andrew gar nicht mehr genug Stoff für eine Überdosis.«

»Warum mußte er dann noch erhängt werden?«

»Eine Überdosis zu spritzen ist keine exakte Wissenschaft. Es ist nicht immer leicht zu sagen, wie ein abgehärteter Körper reagieren wird. Vielleicht hätte man ihn noch lebend gefunden. Der Punkt ist aber wohl eher, daß man ihn betäuben mußte, damit er keinen Widerstand leistete, wenn man ihn auf den Stuhl stellte und ihm die Leitung um den Hals wickelte. Apropos Leitung. Lebie?«

Lebie manövrierte seinen Zahnstocher mit leichter Lippen- und Zungengymnastik aus dem Mundwinkel.

»Die Jungs von der Spurensicherung haben die Leitung für uns überprüft. Kabel, die von der Decke herabhängen, werden selten gewaschen, nicht wahr, und so haben wir geglaubt, daß man dort vielleicht Fingerabdrücke finden mußte. Das Kabel war aber so sauber wie ein … äh …«

Lebie machte eine Bewegung mit der Hand.

»Wie etwas, was normalerweise sehr sauber ist?« eilte ihm Yong zur Hilfe.

»Genau. Die einzigen Abdrücke, die wir fanden, waren unsere eigenen.«

»Also, wenn Andrew nicht die Leitung abgewischt hat, bevor er sich erhängte«, überlegte Wadkins, »und den Kopf durch die Schlinge steckte, ohne das Kabel zu berühren – dann muß das jemand anders für ihn erledigt haben. Wollen Sie das damit sagen?«

»Es sieht so aus, Chef.«

»Aber wenn dieser Typ so schlau ist, wie ihr mich das glauben machen wollt, warum macht er dann das Licht aus?« Wadkins breitete die Arme aus und schaute in die Runde.

»Weil«, sagte Harry, »er das automatisch macht, ohne darüber nachzudenken. Wie Menschen, die ihre eigene Wohnung verlassen. Oder eine Wohnung, zu der sie einen Schlüssel haben und in der sie sich frei bewegen und kommen und gehen können, wann sie wollen.«

Harry lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er schwitzte wie ein Schwein und wußte nicht, wie lange er es noch ohne einen Drink aushalten konnte.

»Ich glaube, der Mann, den wir suchen, ist Otto Rechtnagels heimlicher Geliebter.«

Lebie stellte sich neben Harry in den Aufzug.

»Geht's zum Essen?« fragte er.

»Das hatte ich vor, ja«, antwortete Harry.

»Hast du was dagegen, daß ich mitkomme?«

»Ganz und gar nicht.«

Lebie war die richtige Gesellschaft, wenn man nicht vorhatte, zu viel zu reden.

Sie bekamen einen Tisch im Southern in der Market Street. Harry bestellte einen Jim Beam. Lebie schaute von der Karte auf.

»Bringen Sie uns zweimal Barramundisalat, schwarzen Kaffee und frisches Weißbrot.«

Harry blickte Lebie überrascht an.

»Danke, aber ich für meinen Teil möchte noch nichts«, sagte er zum Kellner.

»Bringen Sie, was ich gesagt habe«, sagte Lebie mit einem Lächeln. »Mein Kumpel wird sich das schon noch überlegen, wenn er euren Barramundi hier erst einmal probiert hat.«

Der Kellner verschwand. Harry schaute Lebie an. Er hatte beide Hände mit gespreizten Fingern vor sich auf den Tisch gelegt und schaute von der einen zu der anderen, als versuche er, einen Unterschied zu erkennen.

»Als ich jung war, bin ich die Küste hinauf nach Cairns getrampt, immer am Great Barrier Reef entlang«, sagte er zu seinen Handrücken. »In einem Hotel für back-packers habe ich zwei deutsche Mädchen getroffen, die auf einer Weltumsegelung waren. Sie hatten sich ein Auto gemietet, fuhren den ganzen Weg von Sydney zurück und erzählten ausführlich, wo sie gewesen waren, wie lange und warum sie dort gewesen waren und wie sie den Rest ihres Urlaubs geplant hatten. Es wurde dabei ganz deutlich, daß sie kaum etwas dem Zufall überließen. Das liegt vielleicht an der deutschen Mentalität. Und als ich sie fragte, ob sie auf ihrer Reise Känguruhs gesehen hatten, lachten sie überlegen und versicherten mir, daß sie natürlich welche gesehen hätten. Dabei schwang irgendwie mit, daß sie diesen Punkt auf ihrer Dagewesen-und-Gesehen-Liste abgehakt hatten. Ich fragte sie dann, ob sie angehalten und sie gefüttert hätten, aber diese Frage verblüffte sie völlig, und sie schauten mich fragend an:

Aber, no!‹

Why not? They are quite cute, you know.‹

›Aber, zey were dead!‹«

Harry war so verblüfft über Lebies langen Monolog, daß er vergaß zu lachen. Känguruhs sind auf den australischen Straßen ein wohlbekanntes Verkehrsproblem, und alle, die ein bißchen außerhalb der Städte herumgefahren sind, haben schon die Kadaver in den Straßengräben liegen sehen.

Der Kellner kam und brachte Harry den Drink. Lebie schaute auf das Glas.

»Vorgestern habe ich ein Mädchen gesehen, das so süß war, daß ich Lust hatte, ihr über die Wangen zu streicheln und ihr etwas Nettes zu sagen. Sie war etwas über zwanzig, trug ein blaues Kleid und hatte nackte Beine. Aber, she was dead. Wie du weißt, war sie blond, vergewaltigt und hatte blaue Würgemale am Hals.

Und heute nacht habe ich von all diesen unsinnig jungen und sinnlos hübschen Leichen geträumt, die in den Straßengräben von ganz Australien liegen – von Sydney bis Cairns, von Adelaide bis Perth und von Darwin bis Melbourne. Und das alles nur aus einem einzigen Grund. Weil wir die Augen davor verschlossen haben, weil wir die Wahrheit nicht verkraften. Weil wir uns nicht genügend dafür eingesetzt haben. Weil wir es uns gestattet haben, schwach und menschlich zu sein.«

Harry begriff, worauf Lebie hinaus wollte. Der Kellner brachte den Fisch.

»Du bist es, der ihm dort draußen am nächsten gekommen ist, Harry. Du warst es, der mit dem Ohr am Boden gelegen hat, und vielleicht kannst du seine Schritte an der Art der Vibration wiedererkennen. Es wird immer mehr als hundert gute Gründe dafür geben, sich zu betrinken, aber wenn du in einem Hotelzimmer liegst und auf den Boden kotzt, bist du für keinen hier mehr eine Hilfe. Er ist nicht menschlich. Deshalb dürfen wir auch nicht menschlich sein. Wir müssen alles aushalten, allem widerstehen.«

Lebie faltete seine Serviette auseinander. »Aber wir müssen essen.«

Harry setzte das Whiskeyglas an seine Lippen und trank langsam, wobei er Lebie anschaute. Dann stellte er das leere Glas wieder auf den Tisch, verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und griff nach Messer und Gabel. Dann aßen sie schweigend.

Harry mußte lächeln, als er erfuhr, daß Wadkins Yong geschickt hatte, um Otto Rechtnagels fette Nachbarin zu verhören.

»Wir können nur hoffen, daß sie sich nicht auf ihn setzt«, sagte Lebie. Harry und Lebie fuhren nach King's Cross hinaus, wo Harry ausstieg.

»Danke, Sergej. Ich glaube, wie gesagt, daß es besser ist, wenn ich von hier aus alleine weitermache.«

Lebie grüßte ihn mit den Fingern an der Stirn und verschwand.

Sandra stand an ihrem gewohnten Platz. Sie erkannte ihn nicht wieder, bis er unmittelbar vor ihr war.

»Danke für den netten Abend«, sagte sie, und ihre winzigen Pupillen machten einen höchst abwesenden Eindruck.

Sie gingen ins Bourbon & Beef hinüber. Eilig kam der Kellner angelaufen und schob ihr den Stuhl zurecht.

Harry fragte, was Sandra trinken wolle, und bestellte eine Cola und einen großen Whiskey.

»Puh, ich dachte, der käme so schnell, um mich hier rauszuwerfen«, sagte sie erleichtert.

»Ich bin so eine Art Stammgast«, erklärte Harry.

»Wie geht es deiner Freundin?«

»Birgitta?« Harry zögerte. »Ich weiß nicht. Sie will nicht mehr mit mir reden. Beschissen, hoffe ich.«