»Warum hoffst du, daß es ihr schlechtgeht?«
»Ich hoffe halt, daß sie mich liebt.«
Sandra lachte heiser.
»Und wie geht es dir, Harry Hole?«
»Beschissen!« Harry lächelte traurig. »Aber es mag sein, daß ich mich ein bißchen besser fühlen werde, wenn ich einen Mörder zu fassen kriege.«
»Und du glaubst, daß ich dir dabei helfen kann?« fragte sie und zündete sich eine Zigarette an. Ihr Gesicht war, wenn das überhaupt möglich war, noch blasser und ausgemergelter als sonst. Ihre Augen hatten rote Ränder.
»Wir ähneln einander«, sagte Harry und zeigte auf ihre Spiegelbilder in den geschwärzten Fensterscheiben neben ihrem Tisch.
Sandra sagte nichts.
»Ich erinnere mich, wenn auch etwas unklar, daß Birgitta deine Tasche auf das Bett geworfen hat und dabei alles herausgefallen ist. Zuerst habe ich geglaubt, du hättest einen Pekinesen in der Tasche gehabt.« Harry machte eine Pause. »Sag mal, wofür brauchst du denn eine blonde Perücke?«
Sandra schaute aus dem Fenster. Das heißt, sie schaute in das Fenster, vielleicht auf ihr eigenes Spiegelbild.
»Ein Kunde hat mir die gekauft. Er möchte, daß ich sie trage, wenn ich bei ihm bin.«
»Wer ist …«
Sandra schüttelte den Kopf. »Vergiß es, Harry. Das sage ich dir nicht. Es gibt in meinem Gewerbe nur wenige Regeln, aber nicht zu verraten, wer zu den Kunden gehört, ist eine davon. Und das ist eine gute Regel.«
Harry seufzte.
»Du hast Angst«, sagte er.
Sandras Augen schienen Feuer zu fangen.
»Versuch es nicht, Harry. Das führt zu nichts, okay?«
»Du brauchst mir nicht zu sagen, wer es ist, Sandra. Ich weiß es. Ich wollte nur erst einmal wissen, ob du Angst hast, es zu erzählen.«
»Ich weiß es«, äffte ihn Sandra verärgert nach. »Und woher willst du das wissen?«
»Ich habe den Stein gesehen, der aus deiner Tasche gekullert ist, Sandra. Den grünen Kristall. Ich habe ihn an dem aufgemalten Sternzeichen wiedererkannt. Er hat ihn dir gebeben. Der Stein kommt aus dem Geschäft seiner Mutter, Crystal Castle.«
Sie schaute ihn mit großen, schwarzen Augen an. Ihr roter Mund war zu einer häßlichen Grimasse erstarrt. Vorsichtig legte Harry seine Hand auf ihren Arm.
»Warum hast du so viel Angst vor Evans White, Sandra? Warum willst du ihn nicht uns überlassen?«
Sandra riß ihren Arm an sich. Sie drehte sich wieder zum Fenster, Harry wartete. Sie schluchzte, und Harry reichte ihr ein Taschentuch, das er aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen in der Hosentasche hatte.
»Es geht nicht nur dir beschissen, weißt du«, flüsterte sie nach einer Weile. Die Ränder um ihre Augen waren noch röter geworden, als sie sich wieder zu ihm wandte.
»Weiß du, was das ist?« Sie schob den Ärmel ihres Kleides hoch und zeigte ihm einen weißen Unterarm mit roten, entzündeten Malen. Auf einigen hatte sich eine Kruste gebildet.
»Heroin?« fragte Harry.
»Morphium«, sagte Sandra. »Es gibt nicht so viele in Sydney, die das in ihrem Sortiment haben, die meisten landen ja doch beim Heroin. Aber ich bin allergisch gegen Heroin. Mein Körper verkraftet das nicht. Ich habe es einmal probiert, und da wäre ich fast gestorben. Mein Gift ist also Morphium. Und im letzten Jahr gab es bloß einen einzigen Menschen hier im King's Cross, der in der Lage war, in ausreichenden Mengen zu liefern. Und er läßt sich durch eine Art Rollenspiel bezahlen. Ich schminke mich und setze eine weiße Perücke auf. Mir ist das scheißegal, wie er sich seinen Kick holt, solange ich den meinen bekomme. Außerdem gibt es wirklich krankhaftere Gestalten als die, die wollen, daß man sich wie ihre Mutter anzieht.«
»Wie die Mutter?« fragte Harry.
»Ich glaube, er haßt seine Mutter. Oder er liebt sie etwas mehr als normal, ich weiß es nicht genau, er will nicht darüber reden, und du kannst, verdammt noch mal, sicher sein, daß ich das auch nicht will.« Sie lachte hölzern.
»Warum glaubst du, daß er sie haßt?« fragte er.
»Die letzten Male war er etwas gröber als sonst«, sagte Sandra. »Ich habe blaue Flecken bekommen.«
»Würgemale?«
Sandra schüttelte den Kopf.
»Das hat er einmal versucht. Das war einen Tag, nachdem das von dem norwegischen Mädchen in der Zeitung gestanden hatte, daß sie erwürgt worden war. Er hat nur seine Hände um meinen Hals gelegt und mich gebeten, still zu liegen und keine Angst zu haben. Ich habe anschließend nicht mehr darüber nachgedacht.«
»Warum nicht?«
Sandra zuckte mit den Schultern.
»Die Menschen werden doch von allem, was sie lesen und hören, beeinflußt. Inspiriert. Denk doch nur daran, als damals hier im Kino 9 ½ Wochen lief. Plötzlich verlangten ganz viele Kunden von uns, nackt auf dem Boden herumzukriechen, während sie in einem Sessel saßen und zuschauten.«
»Ein Scheißfilm«, erwiderte Harry. »Was ist geschehen?«
»Er legte seine Hände um meinen Hals und fuhr mit seinem Daumen über meinen Kehlkopf. Nichts Gewalttätiges. Aber ich habe meine Perücke abgesetzt und gesagt, daß ich solche Spielchen nicht mitmache. Er kam dann wieder zu sich und sagte, das sei in Ordnung. Daß es einfach irgendwie über ihn gekommen sei und das alles nichts zu bedeuten habe.«
»Und du hast ihm geglaubt?«
Sandra zuckte mit den Schultern.
»Du weißt nicht, wie sich schon ein bißchen Abhängigkeit auf dein Wahrnehmungsvermögen auswirkt«, sagte sie und kippte den Rest Whiskey hinunter.
»Nein?« fragte Harry mürrisch und schaute voller Verachtung auf die noch unberührte Flasche Cola, die vor ihm stand.
McCormack trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Harry schwitzte, obgleich der Ventilator auf vollen Touren lief. Otto Rechtnagels fette Nachbarin hatte viel zu erzählen gehabt. Viel zu viel. Nur leider war nichts von dem, was sie erzählt hatte, von sonderlich großem Interesse. Selbst Yong schien in ihrer unangenehmen Gesellschaft Schwierigkeiten gehabt zu haben, die Rolle des braven Zuhörers zu spielen.
»Fat ass«, sagte er augenzwinkernd, als Wadkins ihn fragte, welchen Eindruck er von der Frau gehabt habe.
»Gibt es etwas Neues über das Mädchen im Centennial Park?« fragte McCormack.
»Nicht viel«, erwiderte Lebie. »Wir haben aber herausgefunden, daß sie nicht gerade Mamas Liebling war. Sie nahm Speed und hatte gerade in einem Striplokal in King's Cross angefangen. Sie war auf dem Heimweg, als sie ermordet wurde. Es gibt zwei Zeugen, die behaupten, sie gesehen zu haben, als sie in den Park ging.«
»Sonst noch etwas?«
»Vorläufig nicht, Sir.«
»Harry«, sagte McCormack und wischte sich den Schweiß ab, »laß uns deine Theorie hören.«
»Die neueste davon«, brummte Wadkins, gerade laut genug, damit alle es hören konnten.
»Nun«, begann Harry. »Wir haben den Zeugen, von dem Andrew behauptete, er habe Evans White am Mordtag in Nimbin gesehen, ja nie gefunden. Was wir inzwischen wissen, ist, daß Evans White mehr als normal von blonden Frauen angetan ist. Er hatte eine unausgeglichene Kindheit, und es wäre interessant, mehr über das Verhältnis zu seiner Mutter zu erfahren. Er hat nie eine feste Arbeit oder einen festen Wohnsitz gehabt. Es war deshalb schwierig, seine Bewegungen nachzuvollziehen. Es ist sicher nicht ausgeschlossen, daß er heimlich ein Verhältnis mit Otto Rechtnagel hatte, und es ist auch nicht unmöglich, daß er Otto auf seinen Tourneen gefolgt ist. Vielleicht hat er sich ein Hotelzimmer angemietet und seine Opfer an den jeweiligen Auftrittsorten gefunden. Aber das ist wirklich nur eine Theorie.«
»Vielleicht ist Otto Rechtnagel der Serienmörder«, sagte Wadkins. »Vielleicht wurden Rechtnagel und Kensington von jemand anderem getötet, jemand, der mit den ersten Morden gar nichts zu tun hat.«
»Centennial Park«, sagte Lebie. »Das war unser Serienmörder. Dafür verwette ich alles, was ich habe. Auch wenn ich da nicht allzuviel riskiere …«
»Lebie hat recht«, unterstützte ihn Harry. »Er ist noch irgendwo dort draußen.«