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Den ersten hatte er vor zehn Wochen erhalten. Darin hatte ihn Weatherby nur kurz von einer» bemerkenswerten Entdeckung «unterrichtet.

Ben erinnerte sich, wie er damals geglaubt hatte, daß Weatherby offenbar eine Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert gefunden hatte. Doch dann war dieser Anruf aus Jerusalem gekommen, bei dem John Weatherbys Stimme klang, als hätte er sich einen Eimer über den Kopf gestülpt. Er sprach von einem Versteck mit Schriftrollen, auf das er gestoßen sei, und kündigte an, daß er Ben mit ihrer Übersetzung und zeitlichen Zuordnung betrauen wolle. Das war vor zwei Monaten gewesen.

Die nächste Mitteilung war vier Wochen später in Form eines langen Briefes gekommen. Ein» Ausgrabungsbericht «in zeitlich genauer Abfolge von ihrem Beginn bis zum Fund der Schriftrollen; eine ausführliche Schilderung der Ausgrabungsstätte, insbesondere von Niveau VI; eine Liste von Gegenständen, die man neben den Tonkrügen gefunden hatte — Haushaltsgegenstände, Münzen, Tonscherben — und dann noch eine Beschreibung der Tonkrüge und der Schriftrollen selbst.

Als nächstes war ihm ein dreiseitiger Bericht über den Befund des Instituts für Nuklearforschung an der Universität Chicago zugegangen, die Ergebnisse der Radiokarbontests und eine Festsetzung des Alters der Münzen auf siebzig nach Christus. Doch letztendlich waren die Wissenschaftler lediglich imstande gewesen, auf das breite Spektrum von dreihundert Jahren hinzuweisen, und hatten es auch nicht näher eingrenzen können.

Aus diesem Grund waren die Ablichtungen der Rollen an Ben Messer geschickt worden. Um genauer zu bestimmen, in welchem Jahr sie geschrieben worden waren und was sie aussagten.»Ben?«

«Hm?«Er öffnete langsam die Augen.

«Schläfst du ein?«Angies Stimme klang sanft und einschmeichelnd.

«Ich denke nur nach.«

«Worüber?«

«Oh. «Ben seufzte. Er spürte ein plötzliches Hochgefühl.»Mir ist da gerade etwas eingefallen. Etwas, woran ich bisher noch gar nicht gedacht hatte.«

«Was ist es?«

«Daß Davids Vater denselben Namen trug wie mein Vater.«

«Woher willst du das wissen?«

«Das ist in seinem Namen, David Ben Jona, enthalten. >Ben< bedeutet in Aramäisch >Sohn des<. Also hieß sein Vater Jona. Und zufälligerweise war Jona auch der Name meines Vaters.«

Allmählich spürte Benjamin Messer die Wirkung des Weines. Aus irgendeinem Grund schienen die Rollen plötzlich noch wichtiger als vorher. Dabei hatte er doch erst damit begonnen, sie zu lesen.»Meinst du, daß es noch mehr davon gibt?«

«Das hoffe ich. Ich bete zu Gott, daß es so ist. «Angie sah ihn von der Seite an.»Das wäre mir völlig neu, daß du wüßtest, wie man betet, Ben.«

«Schon gut, das reicht. «Sie hatte ihn oft damit aufgezogen, daß er der frömmste Atheist sei, den sie kenne. Er, Benjamin Messer, der Sohn eines Rabbiners.

Sie schmiegten sich im Halbdunkel des Kaminfeuers aneinander. Angie war emotional vielleicht etwas zurückhaltend, doch ihre sexuellen Wünsche konnte sie durchaus ausdrücken.

«Vergiß die Vergangenheit«, hauchte sie Ben ins Ohr,»komm zurück in die Gegenwart. Komm zurück zu mir.«

Sie machten sich nicht die Mühe, ins Schlafzimmer zu gehen. Der zottelige kleine Teppich vor dem Kamin war bequem genug. Und für eine Weile ließ Angie Ben das Rätsel eines zweitausend Jahre alten Alphabets vergessen.

Später, als sie sich vor dem glimmenden Kaminfeuer anzogen, spürte Ben, wie er rasch wieder nüchtern wurde. Der alexandrinische Kodex, der wohl fälschlich dem Evangelisten Markus zugeschrieben wurde, wartete darauf, übersetzt zu werden. Und dann war da natürlich noch der letzte Teil von Weatherbys Schriftrolle, der gelesen werden mußte. Und morgen gab er Unterricht.»Bleib heute nacht hier«, drängte Angie sanft.»Tut mir leid, Liebes, aber weder Regen noch Graupel, noch ein listiges Frauenzimmer sollen den Handschriftenkundler von seinen anstehenden Übersetzungen abhalten. Das ist Herodot.«

«Das ist albern.«

«Ach wirklich? War er Grieche oder Römer, dieser Marcus Tullius Albern?«

Angie schnappte sich seinen Pullover und warf ihn in Bens Richtung.»Benjamin Messer, mach, daß du rauskommst!«Er lachte und streckte ihr die Zunge heraus. Angies kastanienbraunes Haar fiel ihr ins Gesicht und verlieh ihr das Aussehen eines kleinen Mädchens, während ihre Augen ihn verführerisch anblitzten. Es machte Spaß, mit ihr zusammenzusein. Zwar wußte sie nichts über alte Geschichte, aber es war immer unterhaltsam mit ihr. Und dafür liebte er sie.

«Ciao, Baby, wie sie im Fernsehen sagen. «Er ging fort und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Seine unbeschwerte Stimmung verflüchtigte sich jedoch bald in der frostigen Luft, als er den Wilshire Boulevard hinunterfuhr. Ein Radiosender spielte ein Lied von Cat Stevens oder Neil Young. Er konnte nicht genau sagen, von wem.

Ben gehörte dem Schlag unzeitgemäßer Menschen an, die sagen konnten, ihre Lieblingssängerin sei Olivia Elton John, und damit ungestraft davonkamen.

Doch er achtete nicht wirklich auf die Musik, weil das dringende Problem der Schriftrollen ihn wieder zu plagen begann. Wann waren sie denn nun wirklich geschrieben worden? Zweites oder drittes Jahrhundert wäre nicht annähernd so aufregend wie erstes Jahrhundert. Und ebensowenig hätte das späte erste Jahrhundert eine so sensationelle Wirkung wie das frühe erste Jahrhundert. Gedankenverloren parkte Ben sein Auto in der Tiefgarage seines Apartmenthauses und lief die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Was, wenn.? Was, wenn sie tatsächlich im frühen ersten Jahrhundert geschrieben worden wären? Sie könnten sogar irgendeine Erwähnung, einen Anhaltspunkt oder die Spur einer Zeugenaussage enthalten, durch die die Existenz eines Mannes, den man gemeinhin Jesus Christus nannte, entweder bewiesen oder widerlegt würde! David Ben Jona, dachte Ben, als er mit seinem Wohnungsschlüssel hantierte, zu welcher Zeit hast du gelebt und was hast du mir so Wichtiges zu sagen?

Als er in seiner Wohnung war, machte sich Ben als erstes eine Tasse starken, schwarzen Kaffee, öffnete eine Büchse Katzenfutter für Poppäa und setzte sich dann wieder an seinen Schreibtisch. Der Schein seiner Leselampe erzeugte einen kleinen Lichtkreis, der sich gegen das Dunkel ringsumher abhob. Die übrige Wohnung wirkte wie eine grenzenlose, schwarze Höhle. Nur hin und wieder wurde der Lichtkreis von der neugierigen Poppäa durchbrochen, die über den Schreibtisch lief. Wenn sie dort nichts Interessantes darauf fand, setzte sie ihre nächtlichen Streifzüge durch die anderen Zimmer fort.

Auch an diesem Abend sprang sie, während Ben die Fotografien vor sich ausbreitete, geräuschlos nach oben, stolzierte zwischen Büchern, Aschenbechern und leeren Gläsern umher und schnupperte flüchtig an einem der Fotoabzüge. Dann sprang sie hinunter auf den Fußboden.

Ben war inzwischen wieder völlig nüchtern und vertiefte sich in den dritten Papyrus-Abschnitt. Plötzlich erinnerte er sich an eine Szene, die sich vor sechs Monaten ereignet hatte: Er und Dr. Weatherby waren in dessen Strandhaus am Pazifik gesessen und diskutierten das geplante Projekt Dr. Weatherbys.

Der grauhaarige, robuste Weatherby, der stets so lebendig sprach, hatte Ben schon oft seine Theorie dargelegt, nach der irgendwo in der Nähe von Khirbet Migdal in Israel eine unter der Erde verborgene Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert liege. In seinem Wohnzimmer hatte Weatherby ihm an diesem Abend vor sechs Monaten gesagt:»Wie du weißt, führt das offizielle Verzeichnis des israelischen Ministeriums für Altertümer über siebzehnhundertfünfzig historische Stätten innerhalb der Grenzen von vor 1967 auf. 1970 fanden auf Israels achttausend Quadratmeilen mindestens fünfundzwanzig großangelegte Grabungen statt. Und ich beabsichtige, mir ein Stück von diesem Kuchen abzuschneiden. Die Grabungsgenehmigung muß nun bald kommen. Und dann geht’s ab nach Migdal mit meinem Spaten und meinem Eimer, wie ein Kind, das zum Strand läuft. «Ben starrte lange auf das dritte Foto, auf den formlosen Schreibstil, der dem religiöser Texte so ganz und gar nicht ähnlich war, und er dachte bei sich: So hast du, David Ben Jona, dein kostbares Testament in der Erde von Khirbet Migdal vergraben, und John Weatherby kam daher und grub es aus.