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»Nicht nur zur französischen Krone«, erläuterte Joshua. »Auch eure Päpste haben in Clermont eine bedeutende Rolle gespielt. Vor fast 220 Jahren versammelten sich eure hohen Geistlichen in den Mauern der Stadt zu einem Konzil, auf dem Papst Urban II. zum ersten Krieg gegen das Heilige Land aufrief, um es angeblich von den Ungläubigen zu befreien. Dreizehnhundert Kardinale, Bischöfe und Äbte sollen dort zusammengekommen sein.«

»Das ist lange her«, warf Henri ein.

»Ja, aber schon 70 Jahre später fand unter eurem Papst Alexander II. aus denselben Gründen wieder ein Konzil statt. Und erst recht nicht lange ist es her, dass vor nur 50 Jahren in Clermont eine prächtige Hochzeit stattfand. Isabella von Aragon wurde mit einem Sohn Ludwigs des Heiligen vermählt.«

Joshuas Geschichtskenntnisse verrieten mehr als nur das Interesse eines Gelehrten. Er wusste so genau, was sich im Lande der Franzosen ereignet hatte, weil er nicht in dem ihm zugewiesenen geistigen Ghetto leben wollte. Er wollte ein Franzose sein wie jeder andere auch. Aber seine Mitmenschen sahen in ihm nur den Christusmörder, einen heidnischen Ausländer. Henri, selbst gebildet, bemerkte davon nichts. Er war ganz auf seine Aufgabe konzentriert. Er war überzeugt, dass die Bevölkerung in dieser Stadt entweder dem König oder dem Papst, vielleicht auch beiden, die Treue hielt.

»Also gut!«, beschloss er. »Reiten wir außerhalb der Mauern vorbei und versuchen wir, vor Eintritt der Dämmerung die Aller zu überqueren. Dann müsste es möglich sein, morgen den Fluss Loire zu erreichen.«

Die Überquerung der Aller gestaltete sich nicht allzu schwierig. Es gab zahlreiche Brücken über den Fluss, und Joshua vermutete, dass einige diese Übergänge noch aus der Zeit der Römer stammten. Sie hätten unter einem der breiten Pfeiler Schutz finden können, aber Henri hielt es für ratsam, in der Deckung des Waldes ihr Lager aufzubauen, nachdem sie die Pferde am Fluss getränkt hatten.

Henri wurde immer ungeduldiger, ja näher sie ihrem Ziel kamen. Er weckte seine Gefährten in der Morgendämmerung, als der Nebel noch über dem Fluss lag. »Auf! Auf! Wir müssen weiter!« Die beiden anderen gehorchten ohne Murren.

Die Sonne hatte soeben erst die Spitzen ihrer Strahlen über den Horizont geschickt, als sie die Loire erreichten. Sean stieß einen Ruf der Bewunderung aus. Auf dem jenseitigen Ufer leuchtete das Dach einer Burg, als ob es nicht mit Ziegeln, sondern mit Goldplatten bedeckt sei. Die Wege im Park waren mit weißen Kieselsteinen bestreut, und die ersten Frühlingsblumen füllten die gepflegten Rabatten. Eine weibliche Brunnenfigur, die mitten in einer Wiese stand, hielt ein tönernes Körbchen in den Armen, in dem ein Strauß echter Schlüsselblümchen kunstvoll angeordnet war.

»So etwas Schönes habe ich noch niemals gesehen!«, rief Sean begeistert. Er trat an das Bronzegitter so nahe heran, wie es nur möglich war, und verharrte dort regungslos. Als plötzlich ganz in der Nähe eine Stimme erklang, sprang er zwei Schritte zurück, obwohl die Frage durchaus freundlich gestellt war. »Na, wer bist du denn?«

Sean sah sich einem jungen Mann gegenüber, der zu seinem Erstaunen der steinernen Brunnenfigur glich. Seine Antwort klang selbstbewusst. »Mein Name ist Sean of Ardchatten. Ich entstamme einem berühmten schottischen Geschlecht und bin der Knappe jenes edlen Herrn, der sich auch schottischer Abstammung rühmen darf.« Er deutete auf Henri.

Der junge Mann öffnete mit einiger Mühe das schwere Tor. »Welch eine Freude! Zwei Schotten im Reich des französischen Königs Philipp, den man den Schönen nennt.«

Henri, der fürchtete, dass Sean zu viel ihres Vorhabens ausplappern könnte, trat näher und verbeugte sich. »Verzeiht die Zudringlichkeit meines Knappen! Wir werden Euch nicht weiter belästigen.«

»Aber ganz im Gegenteil!«, rief der junge Mann, dem noch nicht einmal ein einziges Barthaar sprießte. »Auch ich darf mich rühmen, trotz einer französischen Mutter schottischer Abstammung zu sein. Mein Vater ist der Earl of Annan, der sich augenblicklich bei Freunden in der Bretagne aufhält.«

Henri überlegte kurz, ob es dem Earl wohl recht sein könnte, wenn sein Sohn freimütig irgendwelchen Fremden Zutritt zum Schloss erlaubte. »Wird es denn Ihrer Frau Mutter recht sein?«, fragte er zögernd.

Der Sohn des Earl of Annan errötete wie ein Mädchen. »Wenn mein Herr Vater auswärts weilt, bin ich der Herr in dieser Burg!«

Vielleicht wäre eine Ablehnung der Einladung einer Beleidigung gleichgekommen. Die drei Reiter traten ein und übergaben einem herbeigeeilten Stallknecht ihre Pferde. Ein livrierter Diener geleitete sie durch dunkle Gänge, dann führte eine breit geschwungene Freitreppe in ein oberes Stockwerk, wo der Diener ihnen mit einer Verbeugung zwei Räume anwies. Kurz darauf erschien eine Magd, die einen Zuber mit heißem Wasser füllte. Sie warf einen kurzen Blick auf die staubigen Reiter und fügte dem Wasser duftende Essenzen hinzu.

»So war das eigentlich nicht gemeint«, sagte Henri. Aber Sean rief begeistert: »Jetzt riecht es fast wie daheim bei meiner Mutter!«

Die dumpfen Töne eines bronzenen Gongs riefen zur Mahlzeit. Keiner der drei hatte jemals einen so strahlend hellen Saal betreten. Auf dem Tisch brannten unzählige Kerzen, deren Licht sich in den hohen gotischen Fenstern spiegelte. Henri dachte kurz an den Kapitelsaal im Haus der Tempelritter, den er in seiner Knappenzeit als außerordentlich prächtig empfunden hatte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn einer der Großmeister feierlich den Raum betreten hätte. Höflich blieb er hinter der Lehne des Sessels stehen, um beim Eintritt des Gastgebers ein paar Dankesworte zu sprechen.

Aber die Gestalt, die jetzt den Saal betrat, raubte ihm die Sprache. War das eine Zwillingsschwester des jungen Mannes, eine Tochter des Earl of Annan? Aber als das Mädchen, das seine Weiblichkeit mit einer hellblauen Robe unterstrichen hatte, sie jetzt mit einem höflichen »Nehmt bitte Platz, meine Herren!« zum Sitzen aufforderte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der junge Mann und das Mädchen waren ein und dieselbe Person.

Es war eigentlich nicht mehr vonnöten, dass die Gastgeberin ihr Verhalten erklärte. »Da ich mich während der Abwesenheit meines Herrn Vaters alleine mit meinen Dienstboten hier in der Burg befinde, lebe ich nicht ganz ungefährlich. Streunende Banden versuchen einzudringen, und nur unsere scharfen Hunde sind ein gewisser Schutz. In der Verkleidung eines Mannes aber, noch dazu im Besitz einer Waffe, fühle ich mich sicher. Ich bitte Euch, mir den kleinen Betrug zu verzeihen. Mein Name ist Guinivevre.«

Sean saß mit offenem Mund da. Er konnte seine Blicke nicht von dem Mädchen wenden und vergaß sogar zu essen. Wenn er vor dem Tor geglaubt hatte, dahinter müsse das Paradies liegen, so erschien ihm jetzt die strahlende Gestalt wie ein Engel.

Henri versuchte, seinen Knappen in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Wie wäre es denn, Sean, wenn du die hochwohlgeborene Tochter des Earl of Annan mit einem Lied erfreuen würdest?«

Guinivevre klatschte in die Hände. »Ja, ich bitte Euch! Es ist schon lange her, dass mir ein so hübscher junger Mann ein Lied gewidmet hat.«

Henri war erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit sein Knappe in die Mitte des Saales trat und sich Guinivevre zuwandte. Er war besorgt, ob Sean sich in dieser Umgebung passend benehmen könnte. Denn er hatte beobachtet, wie sein Knappe dem Wein allzu oft zugesprochen hatte. Beherrschte er überhaupt ein anderes Lied als das zu Ehren der Jungfrau Maria? In dieser ausgelassenen abendlichen Stimmung wäre das doch ganz und gar unpassend. Noch mehr aber befürchtete er, dass Sean bei seinen Streifzügen durch Bordeaux in schlechte Gesellschaft geraten sein und dort vielleicht einen obszönen Vers aufgeschnappt haben könnte. Er warf ihm einen drohenden Blick zu.

Aber Sean beachtete ihn gar nicht. Er tat so, als ob er sich an dieser Tafel allein mit Guinivevre of Annan befände. Henri hatte die Stimme des Jungen noch niemals so vernommen. Sie klang sehnsüchtig und zugleich demutsvoll. Wo hatte er eine solche Stimme schon einmal gehört? Plötzlich fiel es ihm ein. Es war während der Schlacht um Akkon, als einer der todgeweihten Kämpfer Verse gesungen hatte, die ihm damals unverständlich geblieben waren: »Unter der Linden an der Heide, da unser zweier Bette war.«