»Nicholas! Ich bin’s, Guinivevre of Annan.«
Das Drehgeräusch verstummte augenblicklich, und ein breitschultriger Mann betrat den Hof. Die Männerkleidung schien ihn in keiner Weise zu befremden. Er umarmte Guinivevre und drückte sie kräftig gegen seine lederne Schürze. »Brauchst du einen irdenen Blumenkorb für deine Gartenfiguren? Für dich fertige ich ein Meisterstück an.«
»Diesmal nicht«, erwiderte Guinivevre und deutete auf ihre Begleiter. »Meine Freunde sind auf dem Weg nach Paris. Sie haben einen langen Ritt von Bordeaux bis hierher hinter sich. Vor allem der Junge ist von der langen Reise sehr ermüdet. Sicher kannst du uns Quartier gewähren.«
»Aber natürlich, mein Herzchen«, stimmte der Töpfer zu. »Ich schließe für heute die Werkstatt und werde euch zu meinem Haus begleiten.«
Henri wunderte sich über den Ton, den der Handwerker gegenüber der Tochter eines Earl anschlug. Aber noch an demselben Abend sollte er den Grund dieser Vertraulichkeit erfahren.
Marie, die Frau des Töpfermeisters, hatte es sich nicht nehmen lassen, den Gästen eine gute Mahlzeit vorzusetzen. Um kein Aufsehen zu erregen, hatten Henri und Joshua es auch nicht abgelehnt, einen Schluck Wein zu trinken.
»Betreibt Ihr Eure Töpferei schon seit längerer Zeit?«, erkundigte sich Henri.
Meister Nicholas lachte bitter. »Wir mussten sie nach den Wirren der vergangenen Jahre von Grund auf neu aufbauen. Guinivevre wird sich noch daran erinnern, dass nichts als Scherben in unserem Hof lagen.«
»Wer hatte Euch so etwas angetan?«, fragte Henri.
Der Töpfermeister lehnte sich zurück. »Angefangen hatte das mit dem immer stärker anwachsenden Steuerdruck, dem Zugriff auf Grundbesitz und auf das kaufmännische Vermögen. Selbst der Adel und die Geistlichkeit blieben von der allgemeinen Steuerlast nicht verschont.«
Joshua nickte. Es zeigte sich, dass der Gelehrte auch über das königliche Münzwesen Bescheid wusste. »Um die Steuerzahler zufrieden zu stellen, hat Philipp zweimal den Feingehalt der Münzen erhöht«, erklärte Joshua. »Beide Male hatte er dabei Hintergedanken. Einmal wollte er den Klerus zu einem Konzil gegen der Papst Bonifatius bewegen und ein anderes Mal, um eine alte Forderung des Adels zu erfüllen, dessen Einkünfte aus Grundbesitz erheblich geschmolzen waren. Diese Notlösung stellte sich als verfehlt heraus, und alle fühlten sich betrogen.«
Sean gähnte und legte unter dem Tisch seine Hand auf Guinivevres Schenkel.
Darum beendete Joshua seinen Vortrag und erwähnte nur noch, dass die Juden das Opfer dieser Notlösung waren. Vergeblich hätten sie erklärt, dass sie für das Wirtschaftsleben als reiche Leute nützlicher sein könnten.
»Was hat Guinivevre denn dabei für eine Rolle gespielt?«, fragte Sean ungeduldig.
»Gemach, gemach«, mahnte Nicholas. »Man kann nicht genau sagen, wer plötzlich einen Text von Jakob de Vitry in Umlauf brachte. Ihr wisst doch, dass sich dieser berühmte Dichter und Prediger sehr für die Armen eingesetzt hat. ›Darum sollt ihr in der Hölle heulen, die ihr eure Untergebenen misshandelt und die ihr vom Blut und Schweiß der Armen lebt. Wie viel der Bauer auch in einem Jahr erarbeitet, der Ritter, der Adelige, verschlingt es in einer Stunde.‹«
»Das ist aber jetzt übertrieben«, wehrte sich Guinivevre of Annan.
Nicholas winkte ab und fuhr fort: »Es ging das Gerücht, dass sich in einigen Gegenden trotz Geld- und Prügelstrafen die Bauern weigerten, die Felder ihrer Herren zu pflügen, deren Getreide zu dreschen, das Heu zu wenden oder in ihren Mühlen zu mahlen. Wahrscheinlich hätte dieser Ungehorsam geendet, wie jede Rebellion der Armen früher oder später immer endete: An den Bäumen hätten die Leichen der Armen gebaumelt.«
»Aber warum hatte man deine Töpferei zerstört?«, fragte Henri, der zur Gegenwart zurückkehren wollte.
»In Auxerre herrschte Ruhe. Dennoch waren die Büttel vielleicht angewiesen worden, bei jeder verdächtigen Menschenansammlung hart durchzugreifen. Aber ich weiß bis heute noch nicht, ob das Eingreifen der Büttel nicht nur meiner Töpferei galt. Denn sie drängten eine harmlose Gruppe, die sich nur zu einem Schwatz unter Nachbarn zusammengefunden hatte, in die enge Gasse, wo sich meine Töpferei befand. Ihre Stöcke trafen weniger die Menschen als vielmehr meine irdenen Töpfe. Die Scherben flogen mir um die Ohren.«
»Aber womit hattet Ihr einen solchen Zorn der Büttel erregt?«, fragte Henri fassungslos.
Nicholas konnte sich den Grund vorstellen. »Handwerker sind bei König Philipp nicht mehr wohlgelitten. Denn er hat die demütigende und zugleich vernichtende Niederlage niemals vergessen, die ihm die flandrischen Handwerker in der Goldene-Sporen-Schlacht zufügten. Wahrscheinlich hatte er damals einfach die Kriegstüchtigkeit von uns Handwerkern unterschätzt.«
»Und Guinivevre?«, fragte Sean. »Was tat sie, um Euch zu helfen?«
»Der Earl of Annan weilte zu dieser Zeit gerade in Bordeaux. Damals legte Guinivevre zum ersten Mal Männerkleidung an. Sie ritt zu allen Burgen und Gutshöfen in der Nähe. Als junger Earl von Annan erklärte sie den Herren, dass auch sie durch übermäßige Steuern bedrückt würden. Tatsächlich fand sie offene Ohren. Man versprach ihr, beim König vorstellig zu werden, um eine Steuerermäßigung zu erreichen, damit es nicht zu Aufständen käme. Aber solchen Worten darf man nicht unbedingt Glauben schenken.«
»Da mögt Ihr Recht haben«, pflichtete ihm Joshua bei.
»Dieses Gespräch über den Geldverfall, der auch die Adeligen betraf, nutzte Guinivevre eigentlich nur dazu, um ihr eigentliches Ansinnen vorzubringen. Sie wies darauf hin, dass die Kathedrale ja zum höchsten Lobe des gütigen Gottes erbaut würde. Aber ausgerechnet jenem Handwerker, der maßgeblich an der Ausschmückung beteiligt gewesen sei, habe man die Werkstatt zerstört. Man müsse ihm Geld zukommen lassen und neue Aufträge verschaffen.«
»Hatte dieser Aufruf Erfolg?«, fragte Henri.
»Ja, vor allem deswegen, weil sich auch die Geistlichkeit einschaltete, der sehr viel an der Fertigstellung der Kathedrale gelegen war. Guinivevre hatte bei dem angesehensten Chorherrn ihre Aufwartung gemacht, um ihr Anliegen vorzubringen. Diesmal trug sie allerdings Frauenkleider.«
Sean blickte das Mädchen bewundernd von der Seite an.
Nicholas kam zum Ende seines Berichtes. »Als der Earl aus Bordeaux zurückkehrte und Guinivevre ihm von den Vorgängen in Auxerre erzählte, erklärte sich ihr Vater bereit, den Park mit Keramikfiguren des Töpfermeisters schmücken zu lassen. Die Brunnenfigur mit den Gesichtszügen unserer liebreizenden Guinivevre habt Ihr ja schon bewundern können.«
»Euer Werk in Ehren, Meister Nicholas!«, rief Sean. »Aber die lebende ist mir doch lieber. Die Zartheit ihrer Haut kann auch das teuerste Material nicht ersetzen.«
Henri betrachtete Guinivevre of Annan. Bis jetzt hatte er sie für allzu lebenslustig, wenn nicht gar abenteuerlich gehalten. Sie war in seiner Achtung gestiegen. Wenn sein Knappe schon jetzt seine erste Liebe und Erfahrung mit Frauen erleben wollte, dann war Guinivevre of Annan keine schlechte Wahl.
Nicholas erhob sich und wünschte seinen Gästen eine gute Nacht. »Mein Gehilfe wird heute bei seiner Mutter übernachten, sodass für die Herren ein Nachtlager zur Verfügung steht. Meine Frau wird mit mir in die Töpferei zurückkehren, um den Brennofen zu beobachten. So steht für die Dame ein gebührend großes Bett zur Verfügung.« Er lächelte vielsagend.
Jeder tat so, als ob er nicht bemerke, wie Guinivevre den Knappen bei der Hand nahm und mit sich führte.
Henri erhob sich, als die anderen noch schliefen. Er wollte die Frühmesse in der Kathedrale besuchen und Gott um seinen Segen für das gefährliche Vorhaben bitten. Nicholas hatte ihm gesagt, er müsse unbedingt in die Krypta hinabsteigen, die trotz des wütenden Brandes vor 200 Jahren unversehrt geblieben sei.
Henri folgte diesem Rat und bereute es nicht. Denn in dem Tonnengewölbe hatten auch Fresken die unruhigen Zeiten überstanden, sogar einen Einsturz der Chorflankentürme vor 100 Jahren. Henri konnte sich vom Anblick dieser Fresken nicht trennen. Auf einem weißen Pferd ritt Christus vor einem großen Kreuz, zwischen dessen Armen sich reitende Engel befanden. Eine solche Darstellung hatte Henri noch niemals gesehen. Er nahm den reitenden Gottessohn als gutes Vorzeichen.