Noch waren Handwerker tätig. Mit dem Bau des Quer- und Langhauses war erst vor wenigen Jahren begonnen worden, obwohl Bischof Guillaume de Seignelay schon im Jahre 1215 den Grundstein zu einem umfassenden gotischen Neubau gelegt hatte. Aber Nicholas, der beim Bau als Handwerker mitgewirkt hatte, vertrat die Ansicht, dass die Arbeiten, trotz des Einsturzes der Türme, zügig vorangeschritten wären.
Henri ließ sich von dem Klopfen und Hämmern nicht stören. Die Messe wurde für ihn zu einem letzten Ruhepunkt vor dem Ritt nach Paris. Denn die bunten Glasfenster erzeugten ein fast schon jenseitiges Licht, das ihn in eine Stimmung fern aller Sorgen und Gefahren versetzte.
Gestärkt verließ er die Kathedrale, die ihren Namen dem heiligen Sankt Etienne verdankte – dem heiligen Stephanus. Henri erwählte ihn als einen Nothelfer für den Ritt nach Paris, wo er sein Versprechen einlösen wollte.
18
Seine drei Gefährten hatten nichts dagegen einzuwenden, als Henri auch weiterhin einen Ritt entlang des Flusses Yonne vorschlug. »In Montereau mündet die Yonne als linker Nebenfluss in die Seine. Wir könnten erwägen, uns von da an auf dem Wasserweg Paris zu nähern. Vielleicht schützt uns das davor, entdeckt und erkannt zu werden.«
Joshua nickte. »Wir haben damals Paris auf der Seine verlassen. Das war die richtige Entscheidung. Warum sollte sie diesmal falsch sein?«
Sean und Guinivevre hatten dem Vorschlag nur oberflächlich zugehört. Sie tuschelten und lachten miteinander. Henri begann zu überlegen, ob die beiden den Gefahren gewachsen waren, die jetzt auf sie zukommen würden.
Ohne Hindernisse ritten sie an den Ufern der Yonne entlang. Es schien so, als ob dieser Fluss seinen wilden Ursprung im Gebirge von Morvan vergessen habe. Er floss ruhig und geradlinig dahin. Bei Einbruch der Dämmerung erreichten sie Montereau.
»Es wäre unklug, im Freien zu übernachten«, gab Henri zu bedenken. »Die Bevölkerung kleiner Städte ist für gewöhnlich sehr argwöhnisch gegenüber Fremden. Darum wollen wir versuchen, als anständige Kaufleute in einer Herberge um Übernachtung nachzusuchen.«
Der Wirt besah sich die Fremden von Kopf bis Fuß und begutachtete auch deren Reittiere. Die Prüfung fiel zu seiner Zufriedenheit aus. »Wenigstens seid Ihr keine Soldaten«, brummte er. »Die wohnen in letzter Zeit ständig hier und zahlen nie ihre Zeche.« Er wies ihnen zwei Kammern an, und Guinivevre ließ keinen Zweifel daran, wer in einem der Räume übernachten würde.
Henri fasste einen Entschluss, den er schon mehrfach erwogen hatte. Die beiden Verliebten waren nur noch mit sich selbst beschäftigt. Was um sie herum vorging, nahmen sie nicht mehr wahr. Es wäre doch für alle am besten, wenn er die beiden zur heimatlichen Burg an der Loire zurückschicken würde. Oder doch wenigstens bis nach Auxerre zu Meister Nicholas. Er fragte Joshua nach dessen Meinung.
»Ich halte dies auch für die beste Lösung«, schloss sich Joshua an. »Wir tragen für die beiden doch eine gewisse Verantwortung. Es wäre mir schrecklich, wenn Sean und dem Mädchen etwas zustoßen würde.«
»Morgen werde ich den beiden unsere Gründe klarmachen«, sagte Henri.
Joshua hatte noch Bedenken. »Meinst du, dass sie gehorchen werden?«
»Das lasse nur meine Sorge sein«, erwiderte Henri mit fester Stimme. »Ein Knappe darf sich nicht den Anordnungen seines Herrn widersetzen. Und eine Frau schon gar nicht.«
Joshua erlaubte sich ein Lächeln. »Lieber Henri, die Zeit, als du ein Templerknappe warst, ist schon lange vorüber.«
Am nächsten Tag aber, ehe Henri seinen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, geschah etwas Unvorhergesehenes. Henri wollte zunächst die Stadt verlassen, um nicht doch noch erkannt zu werden. Dort, wo die Yonne in die Seine mündete, hatte er eine Rast geplant, um Sean und Guinivevre seinen Entschluss mitzuteilen.
Aber sie hatten soeben erst den Marktplatz erreicht, als sie eine Menschenansammlung bemerkten. Sie hatte sich im Kreis um etwas in ihrer Mitte geschart, das Henri nicht sehen konnte. Empörte Stimmen wurden laut: »Verfluchter Hund! Ungläubige Bestie! Schlagt ihn tot, diesen erbärmlichen Wurm eines falschen Propheten!«
Henri bahnte sich einen Weg durch die Menge. Ein Sarazene hatte einen kleinen Teppich ausgebreitet und betete seelenruhig mit dem Gesicht gen Mekka. Wie konnte ein Mensch so leichtsinnig sein und die Gefahr derart auf die leichte Schulter nehmen? Die aufgebrachte Menge würde den Araber lynchen, wenn er jetzt nicht eingriff.
»Geht zurück, Leute!«, rief er laut. »Dieser Ungläubige ist es nicht wert, dass ihr euch mit seinem Blut die Finger beschmutzt. Lasst mich das mit meinem Dolch erledigen!« Er trat vor und riss den Mauren an den Haaren hoch. »Bist du von Sinnen?«, zischte er ihm zu.
Der Sarazene zog eine Damaszenerklinge aus seiner Burda und ließ die Waffe durch die Luft kreisen. Die Menge schrie laut auf.
»Ihr wagt es, mich ungläubig zu nennen?«, rief der Araber wütend. »Es gibt nur einen Gott! Und Muhammad ist sein Prophet. Wer nicht daran glaubt, der ist ein Ungläubiger, nicht etwa wir Sarazenen.«
Henri setzte ihm die Spitze seines Dolches auf die Brust. »Schwört Eurem Irrglauben ab! Sonst werde ich Euch töten, so wahr mir Gott helfe!« Die Menge klatschte begeistert Beifall. Solche spontanen Kämpfe waren – neben den Hinrichtungen und den Vorführungen der Gaukler – die einzige Unterhaltung, die sie in ihrem Leben hatten.
Der Anhänger des Propheten lachte höhnisch. »Euer Papst ist eine elende Kreatur, die nur von König Philipps Gnaden lebt. König Philipp aber ist ein Mörder, der nicht davor zurückschreckt, unschuldige Menschen hinzurichten. Das Volk aber unterdrückt er mit seinen Steuern.« Diesmal blieb die Menge stumm.
Henri wollte Zeit gewinnen. »Wagst du es, unseren König zu verunglimpfen? Knie nieder und leiste Abbitte!«
Statt diesem Befehl zu gehorchen, schlug der Sarazene die Spitze des Dolches von der gefährlichen Nähe seiner Kehle fort, wirbelte seine Damaszenerklinge durch die Luft und näherte sich bedrohlich Henris Gesicht. »Bist du nicht auch ein williger Untertan dieses verbrecherischen Königs Philipp? Dann hast auch du den Tod verdient.«
»Warum hilfst du ihm nicht?«, wandte sich Sean erregt an Joshua. »Siehst du nicht, was dieser Ungläubige im Schilde führt? Er will Henri blenden.«
Joshua blieb ruhig stehen. »Heute ist Sabbat. Der Herr hat uns Juden verboten, an diesem Tag zu kämpfen. Ich werde den Herrn bitten, dass er Henri den Sieg in diesem Kampf schenkt.«
»Das ist doch verrückt!«, schrie Sean. »Wenn mir Henri nicht unter Androhung von Schlägen verboten hätte, ohne seine Zustimmung in einen Kampf einzugreifen, dann würde ich ihm mit meiner Lanze beistehen.«
Joshua hielt ihn am Kragen fest. »Henri hat im Heiligen Land schon oft gegen die Ungläubigen gekämpft. Er weiß, was zu tun ist. Bisher ist er aus allen Kämpfen als Sieger hervorgegangen.«
Guinivevre hielt den Augenblick für gekommen, sich in diese Auseinandersetzung einzuschalten. »Auch ich verbiete dir, auf den Kampfplatz zu springen, um da den Helden zu spielen. Ich möchte nicht, dass mein Geliebter von dem Dolch eines Sarazenen getötet wird.« Sie stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor Sean.
Der Kampf wogte ohne Entscheidung hin und her. Die Zuschauer, die gerade eben noch lauthals den Tod des Sarazenen gefordert hatten, standen unschlüssig und bald auch gelangweilt herum. Da wollte kein Blut fließen! Mut hatte der Fremdländer ja – stimmte es dann vielleicht gar, was dieser Ungläubige behauptete? Sie hätten gern ihren Pfarrherrn gefragt und schickten einen jungen Burschen zum Haus des Geistlichen. Was die Lehren der Kirche waren, das wussten sie so genau nicht – aber sie wussten nur zu genau, dass jeder, der davon abwich, ein Ketzer war und in der Hölle schmoren musste. Es war also nie verkehrt, sich lieber einmal rückzuversichern.