Henri suchte nach einer Möglichkeit, den Kampf zu beenden, ehe der Geistliche sich einmischen konnte. Vielleicht würde dieser kraft seines Amtes den Sarazenen arretieren und den Bütteln übergeben. Darum gab sich Henri laut als Gegner König Philipps zu erkennen. »Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass dieser verfluchte König Philipp ins Himmelreich eingeht!«, rief er empört.
Der Maure blickte Henri amüsiert an: »So kennt Ihr unseren Koran?«
Henri schüttelte empört den Kopf. »Euer Götzenbuch? Jesus Christus mag mich davor bewahren, jemals auch nur ein Wort daraus zu lesen. Nein, ich führe unser heiligstes Evangelium an, das 19. Kapitel der frohen Botschaft nach Matthäus. Oder schlagt nach bei Lukas im 18. oder bei Markus im 10. Kapitel! Dann schreibt Euch den Vers hinter die Ohren, ehe ich ihn Euch einbläue: ›Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.‹«
Die Leute begannen, sich enttäuscht zu zerstreuen. Die biblischen Erörterungen wurden ihnen langweilig. Es wurde immer offensichtlicher, dass es bei diesem Kampf weder Gewinner noch Verlierer gab, vor allem aber kein Blut. Nicht einmal die Stricke, die einige aus ihrem Haus geholt hatten, kamen zum Einsatz. Allzu gern hätten sie den Ungläubigen aufgeknüpft. Die Frauen schickten ihre Kinder nach Hause, die mit offenen Mündern diesem Schauspiel zugeschaut hatten. Es gab wohl nichts mehr zu sehen, wenn sich diese Herren Ritter auf eine langwierige theologische Disputation verlegten. Hätte doch nur der feine Herr dem Ungläubigen den Kopf abgeschlagen!
Aber der Sarazene ließ Henri nicht das letzte Wort. »Ihr irrt, Ritter! Ich weiß, dass Ihr den allerheiligsten Koran angeführt habt, die siebte Sure mit dem Namen Al A’raf, die Höhen: ›Die unsere Zeichen verwerfen und sich mit Verachtung von ihnen abwenden, denen werden die Pforten des Himmels nicht aufgemacht, noch werden sie in den Garten eingehen, ehe denn ein Kamel durch ein Nadelöhr geht. So strafen wir die Missetäter.‹ Das dürft Ihr Euch hinter die Ohren schreiben, denn Ihr gehört zu den Missetätern.«
Inzwischen waren auch die letzten Leute, die sich ein blutiges Schauspiel erwartet hatten, enttäuscht in ihre Häuser zurückgekehrt.
Henri schwang sich in den Sattel und winkte seinen Gefährten, ihm zu folgen. »Wir müssen hier verschwinden. Unser Ziel ist das Ufer, wo die Yonne in die Seine mündet. Beeilt euch!«
Sean zögerte. »Wollen wir denn wirklich den Sarazenen laufen lassen?«, fragte er unschlüssig. »Ich würde diesem Ungläubigen allzu gern einen Denkzettel verpassen.«
»Steig auf und halt den Mund!«, rief Henri ihm zu. »Wer hier wem was verpasst, bestimme immer noch ich.«
Guinivevre warf Henri einen bitterbösen Blick zu, ehe sie seiner Aufforderung folgte und in den Sattel sprang.
Da kam endlich auch der Pfarrherr mit fliegender Soutane über den Platz geeilt und schaute sich verdutzt um. »Wo ist der Ungläubige?« Doch der Platz war längst leer.
Henri erreichte den vereinbarten Treffpunkt als Erster. Nach ihm traf Uthman ein. »Mein arabischer Barq ist deinem Reittier bei weitem überlegen. Barq, der Blitz, macht seinem Namen eben alle Ehre.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte Uthman und umarmte nun Henri herzlich. »Denn er stammt schließlich aus demselben Land, in dem ich geboren wurde.«
Noch waren die anderen nicht eingetroffen. Darum konnte sich Henri nicht enthalten, nach Leila zu fragen. »Wie geht es deiner Schwester? Ist sie glücklich, oder leidet sie unter ihrem grässlichen Ehemann?«
Uthmann zog eine Grimasse. Sein Gesicht verfinsterte sich. Aber er blieb die Antwort schuldig, denn soeben trafen auch die anderen Reiter ein.
Uthman trat auf Sean zu und hob ihn ohne besondere Kraftanstrengung aus dem Sattel. »Hier ist also der junge Mann, der mir einen Denkzettel geben wollte. Nur zu! Zieh deinen Dolch und mache dich zum Kampf bereit!«
Guinivevre warf sich dazwischen. »Schämt Ihr Euch nicht, ungläubiger Hundesohn, mit einem so viel Kleineren und Schwächeren kämpfen zu wollen?«
Henri wartete belustigt ab, wie diese Auseinandersetzung verlaufen würde.
»Ah, da gibt es noch so einen Milchbart, der dir zur Seite springen möchte! Ich will es gerne mit euch aufnehmen!« Uthman warf seinen Dolch weg, ergriff die beiden an den Handgelenken und warf sie zu Boden. »Wer von euch möchte als Erster eine Tracht Prügel beziehen?«
Henri trat dazwischen. »Das reicht, Uthman. Der eine der beiden Jungen ist ein Mädchen. Sie ist die Tochter des Earl of Annan. Ich möchte nicht, dass sie eine Verletzung davonträgt.«
»Schade«, meinte Uthman. »Wer Männerkleidung anlegt, muss dafür auch gerade stehen.«
Sean war aufgestanden und stellte sich vor Guinivevre. »Wage nur ja nicht, dieses Mädchen anzufassen! Sie ist meine Geliebte.«
Uthman trat zurück. »Henri ist der beste Freund, den ich jemals besessen habe. Denn er hat meinem Vater in Akkon das Leben gerettet, und wir beide haben gemeinsam einen weiten Weg durch Syrien zurückgelegt. Zeige doch bitte deinen Talisman, mein Freund!«
Henri zog an dem ledernen Band die syrische Münze hervor und zeigte sie den anderen. »Diese Münze schenkte mir Umar in dem Kampf um Akkon, als ich Uthmans Vater unter Trümmern hervorzog und ihm die Gefangenschaft ersparte.«
»Oh, wie dumm war ich!«, rief Sean, der jetzt endlich begriffen hatte. »Jetzt weiß ich, wer dieser Sarazene hier ist. Vergebt mir, Herr!«
Henri wies auf das Wasser, das im Licht der untergehenden Sonne eine blutrote Färbung angenommen hatte. »Wir wollen froh sein, dass uns allen das echte Blut eines Freundes erspart blieb.«
Joshua stand ein wenig abseits. Er fürchtete, dass ihn die anderen verachten würden, weil er Henri nicht zu Hilfe gekommen war. Aber Henri ging auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Schultern. »Du siehst bekümmert aus. Aber dazu besteht kein Grund. Ich weiß, dass du mich nicht im Stich gelassen hättest, wenn ich in ernsthafte Gefahr geraten wäre.«
»Ich danke dir für deine Worte«, erwiderte Joshua. Er wusste, dass er bei seinem Freund immer Verständnis finden würde.
Sie lagerten oberhalb der Stelle, wo die Yonne sich mit der Seine vereinigte. Einige Lastkähne bewegten sich schnell stromabwärts.
»Ob die uns wohl mitnehmen?«, fragte Sean. »Ich habe noch nie eine Flussfahrt gemacht. Darauf freue ich mich schon.«
Henri fiel seine nachfolgende Rede schwer. Er wusste nicht, wie er Sean beibringen sollte, dass nun eine Trennung bevorstand. Er winkte ihm, dass er sich neben ihm auf einem Baumstumpf niederlassen solle. »Möchtest du wirklich mit ansehen, wenn wir den König umbringen? War dir nicht schon der Anblick des getöteten Ritters schrecklich? Er lag in seinem Blute, und die Augen blickten leblos und starr zu den Balken der Decke.«
Sean schüttelte sich. »Das war furchtbar. Ich wünsche mir, dass Guinivevre niemals so etwas sehen muss.«
Er fühlte Verantwortung für das Mädchen. Henri war beinahe gerührt. »Weißt du, Sean, dass wir bei unserer Tat vielleicht gefasst und für immer im Verlies eingekerkert, wenn nicht gar gefoltert werden? Was wird dann aus Guinivevre? Man wird mit ihr das machen, was der Ritter Magdalene zufügte.«
Sean sah ihn erschrocken an. Seine Augen wurden rund und groß. »Du bist noch nie erwischt worden und wirst uns schon aus der Klemme helfen, wenn wir so dumm sind, uns erwischen zu lassen.« Sein Vertrauen zu seinem Herrn war unerschütterlich.
Henri fühlte, dass ihm die Trennung von seinem Knappen sehr schwer fallen würde. Aber es musste sein. Er wollte Sean und das Mädchen nicht in eine Gefahr bringen, die auch für erwachsene Männer unabsehbar schwer zu bewältigen war.