Atemlos erreichten sie den Hafen, wo Joshua sie ungeduldig erwartete. Über einen hölzernen Steg führten sie ihre Reittiere an Bord. Der Eigner war ein älterer Mann mit einem windgegerbten Gesicht. Aber er begnügte sich trotz seines Alters mit einem einzigen Schifferknecht. »Stromabwärts genügt ein tüchtiger Helfer«, erklärte er. »Aber wenn es stromaufwärts geht, brauche ich mehrere Knechte, die mein Schiff am Ufer entlang ziehen.«
»Wir sind Euch sehr dankbar«, sagte Henri und wählte diese Worte nicht aus Höflichkeit. Er deutete auf Uthman. »Dieser junge Mann hier versteht etwas von der Arbeit an Bord. Wenn Not am Mann ist, wird er Euch gerne helfen.« Er hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen. Denn Uthman hatte ihn kräftig gegen das Schienbein getreten.
Der Schiffsherr winkte seinem Knecht. »Löse die Taue vom Poller! Wir legen jetzt ab.«
Henri, Joshua und Uthman sahen erleichtert die Silhouette von Melun verschwinden. Das blaue Wasser der Seine rauschte links und rechts an den Bordwänden entlang. »Ist das nicht eine wunderschöne Musik?«, meinte Joshua. »Von mir aus kann diese Fahrt ewig dauern.«
Die beiden anderen nickten. Sie beobachteten die Seinemöwen, die den Lastkahn begleiteten. Das sanfte Schaukeln des Kahns vermittelte ihnen ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit. Keiner der drei wollte diese Stimmung zerstören. Niemand sprach von der Gefahr, die sie in Paris erwartete.
Die Erschöpfung nach den vergangenen Ereignissen verlieh ihnen einen tiefen Schlaf. Aber Henri hatte seit seiner Erziehung bei den Templern die Fähigkeit erlangt, auch im Schlaf jedes ungewöhnliche Geräusch wahrzunehmen. Er vernahm ein Schaben und Rauschen. Zuerst dachte er an Ratten. Das war nicht weiter schlimm, denn Ratten an Bord ließen sich sogar als gutes Zeichen deuten. Diese Tiere verließen nur ein sinkendes Schiff. Aber er wollte doch nach den Pferden sehen und trat aus seiner engen Koje.
Was er draußen auf dem Deck zu sehen bekam, konnte er zuerst kaum glauben. Uthman arbeitete dort mit Wasser und einem Reisigbesen. Er schrubbte das Deck, das die Pferde am Abend zuvor verunreinigt hatten.
Uthman grinste, als Henri vor ihm auftauchte. »Da staunst du wohl, feiner Herr, der zwar mit Geld, aber nicht mit dem Scheuerbesen umgehen kann. Du wirfst mir vor, dass ich allzu kampfeslustig bin, und hast mich erst heute daran gehindert, das Seil etwas kräftiger um den Hals des erbärmlichen Kerls zu ziehen. Ich kann aber durchaus auch nützliche Arbeit leisten.«
»Also du meinst, ich könne nur mit Geld umgehen?«, erwiderte Henri. »Da werde ich dir etwas anderes beweisen. Gib her!« Er wollte Uthman den Besen aus der Hand reißen. Aber Uthman wehrte sich. In dem Gerangel stießen sie den Eimer um, und das Wasser ergoss sich über ihre Füße.
»Ich wusste doch gleich, dass du für diese Arbeit nicht zu gebrauchen bist«, rief Uthman triumphierend und duckte sich vor einer scherzhaften Maulschelle.
Sie lachten beide, doch sie wussten, dass es für lange Zeit nichts mehr zu lachen geben würde. Es klang wie ein Schwur, den sie gegen alle Widerstände einlösen würden.
20
»Warum wollt ihr nicht weiter mit mir bis zur Seinemündung fahren?«, fragte der Eigner des Lastkahns, als sie sich Paris näherten. »Die Stadt ist schmutzig, und es wimmelt nur so von Dieben und Mördern, die ahnungslose Fremden in den dunklen Gassen um ihre Barschaft, wenn nicht sogar um ihr Leben bringen.«
»Nur zu gern würden wir mit Euch die Reise an Bord des Albatross fortsetzen«, erwiderte Henri und schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber wir sind Lederwarenhändler und müssen in Paris wichtige Geschäfte abwickeln.«
Der Schiffer deutete auf Uthman. »Könnt Ihr nicht wenigstens auf den jungen Burschen hier verzichten? Er ist kräftig und anstellig. Ich könnte ihn gut gebrauchen, vor allem für die Rückfahrt, wenn der Kahn flussaufwärts gezogen werden muss. Meinem alten Knecht Laurant fehlen von Mal zu Mal mehr die notwendigen Kräfte.«
Uthman grinste vor sich hin und warf sich in die Brust. »Das wäre mir allerdings lieber, als junge Damen davon zu überzeugen, dass ein Täschchen aus feinstem Kalbsleder hübscher und bei weitem haltbarer ist als so ein grober Brokatbeutel. Außerdem ist eine Lederschatulle allemal sicherer gegen Taschendiebe als ein Beutel mit einer weiten Öffnung. Für einen Langfinger ist es nämlich dann keine Kunst, mit der Hand hineinzulangen.«
»Woher hast du nur diese Kenntnisse?«, fragte Joshua und klopfte Uthman auf die Schultern. Ihm gelang es gut, den Ahnungslosen zu spielen. Henri, der die Spitze bei dieser Frage durchaus verstanden hatte, wollte keine Rede und Gegenrede entstehen lassen. Denn Joshua und Uthman konnten sich auf rhetorischem Gebiet durchaus das Wasser reichen und würden sich gegenseitig an scharfen Formulierungen übertreffen wollen. Darum wandte er sich an den Schiffer. »Es tut mir Leid, dass ich Euch meinen tüchtigsten Verkäufer nicht überlassen kann. Aber dieser hübsche junge Bursche hat gerade bei den Pariser Damen großen Erfolg. Sie können seinen glänzenden braunen Augen kaum widerstehen. Ohne ihn verkaufen wir nur die Hälfte.«
Joshua hatte sich über die Reling gebeugt und starrte gedankenverloren in die Wellen. Aber seine zuckenden Schultern verrieten, dass er sich das Lachen kaum verbeißen konnte.
»Schade!«, bedauerte der Schiffseigner. »Aber wenn ihr in Paris noch kein Quartier habt, kann ich euch helfen. Wir legen nordwestlich von Paris hinter der ersten Flussbiegung in Nanterre an. Dort betreibt mein Bruder Robert eine Gastwirtschaft. Wenn ich für eure Ehrlichkeit bürge, wird er euch gern in den Speicherräumen unterbringen. Für eure Pferde ist in den Stallungen genügend Platz.«
Kurz vor Sonnenuntergang begab sich Uthman zum Vordersteven des Schiffes, um vielleicht in der Ferne die Türme des Palais de la Cité zu entdecken. Aber als er an dem kleinen dunklen Geräteraum vorüberging, in dem Taue, Ketten und Handwerkszeug aller Art aufbewahrt wurden, fühlte er sich plötzlich von einer kräftigen Faust ins Innere gerissen. Er war auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet, verfing sich in einer der lose zusammengerollten Ketten und schlug mit dem Kopf auf eine rostige Eisenplatte. Einen Atemzug lang verlor er das Bewusstsein.
Dieser kurze Augenblick hatte dem Schifferknecht genügt, um sich auf Uthman zu werfen und ihm mit einem Seil Hände und Füße zu fesseln. Der ältliche Mann keuchte vor Anstrengung. Der Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln. Er hatte eine Maurerkelle ergriffen und schlug sie abwechselnd rechts und links dem wehrlosen Uthman über die Backen. »Das könnte dir wohl so passen, scheinheiliges Bürschchen, mich mit deiner Jugend bei meinem Brotherrn auszustechen, dem ich schon so viele Jahre lang treu gedient habe. Mich bringst du nicht um meinen Verdienst. Wenn ich dich jetzt gefesselt über Bord schmeiße, wird kein Hahn mehr nach dir krähen.«
Uthman, dem die Wangen brannten und der fürchtete, er könne bei dieser groben Behandlung einige Zähne verlieren, spannte alle Muskeln an – denn er spürte, dass dem alten Schifferknecht wohl die Kräfte gefehlt hatten, ihn mit dem Seil fest genug zu binden. Vorsichtig befreite er zunächst seine Handgelenke von den Fesseln. Er musste Zeit gewinnen. »Aber wie kommst du nur auf solche Gedanken?«, fragte er und gab seiner Stimme einen versöhnlichen Klang. »Ich bin und bleibe Lederwarenhändler und werde es nie zu einem guten Seineschiffer bringen. Noch heute gehen wir von Bord, und ich werde niemals zurückkehren.«
Der Knecht zögerte und sah ihn zweifelnd an. »Versprichst du bei der heiligen Jungfrau, dass du die Wahrheit sagst?«
Uthman hatte seine Hände schon befreit und versuchte nun vorsichtig, aus den Fußfesseln zu schlüpfen. »Ich verspreche es.« Er nahm sich zwar vor, dieses Versprechen einzuhalten, dachte aber dennoch daran, dass ein Gelöbnis dieser Art vor Allah und dem Propheten ohnehin ungültig sei. Es konnte nicht schaden, den Knecht in eine Falle zu locken. »Binde mich jetzt los! Ich werde dir sogar einen hübschen Ledergürtel zur Erinnerung schenken.«