Er beobachtete, dass er mit der Erwähnung eines Geschenkes die Habgier des Mannes geweckt hatte. Offensichtlich hatte der ahnungslose Schifferknecht noch nicht bemerkt, dass Uthman sich aus den Fesseln befreit hatte. Er legte die Maurerkelle beiseite und bückte sich, um die Knoten zu lösen.
Uthman war mit einem Sprung auf den Beinen und verabreichte seinem Gegner eine kräftige Maulschelle, die ihn zu Boden warf. Mit einer schnellen Bewegung drehte er Laurant auf den Bauch und band ihm Hände und Füße zusammen. »Du hättest besser lernen sollen, wie man Schifferknoten bindet!«, verhöhnte er den jetzt wehrlos gewordenen Angreifer. »Für einen langjährigen Schiffer bist du in dieser Kunst nur mangelhaft bewandert. Vielleicht sollte ich deinem Herrn davon erzählen, damit er mir doch deine Arbeit überträgt.«
Der Knecht versuchte, den Kopf zu wenden, um Uthman in die Augen sehen zu können. »Aber du hast bei der heiligen Jungfrau geschworen, dass…« Er murmelte noch irgendetwas Unverständliches.
»Ach ja!«, rief Uthman und tat, als ob er sich erst jetzt an dieses Versprechen erinnerte. »Wie gut, dass du mich ermahnst, dass ich nicht Flussschiffer, sondern ein Lederwarenhändler bin. Ich werde dir mit meinem Gürtel die versprochene Erinnerung mit auf deinen weiteren Weg geben.« Mit einem kaum wahrnehmbaren Griff hatte Uthman seinen Gürtel von der Hüfte gelöst und ließ ihn mit weit ausholenden Schlägen zischend auf den Rücken des Knechtes hinabsausen. »So, hier hast du deine Erinnerung! Hoffentlich ein Hinterteil in den grünblauen Farben der Seine.«
Uthman hatte eigentlich nicht vorgehabt, den Mann allzu sehr zu traktieren. Aber plötzlich musste er an eine Bestrafung denken, die ein junger Mann über sich ergehen lassen musste, der gegen die Gesetze des Islams verstoßen hatte. Eigentlich war es ein geringfügiges Vergehen gewesen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte der Junge im Übermut ein Glas Wein getrunken. Nach den Peitschenschlägen hatte man ihn halb ohnmächtig nach Hause getragen. Aber der Schifferknecht hatte ihm nach dem Leben getrachtet, zumindest hatte er ihm angedroht, ihn gefesselt über Bord zu werfen. Da war eine kräftigere Bestrafung angebracht als ein paar Schläge mit einem Ledergürtel.
Er wusste später selber nicht zu sagen, warum er so in Wut geraten war. Seine Schläge wurden immer heftiger. Das Hemd des Mannes riss in Fetzen, und die ungeschützte Haut platzte mehrfach auf, sodass Blut aus den Wunden quoll. Hätte Laurant vor Schmerz geschrien, wäre Uthman nicht zur Besinnung gekommen. Aber auf einmal wirkte die Stille wie ein stummes Signal.
Statt der Wut überfiel ihn lähmendes Entsetzen. Ich werde ihn doch nicht totgeschlagen haben?
Er drehte Laurant auf die Seite und beugte sich über ihn. Erst jetzt hörte er, dass der Geschlagene leise stöhnte. Er sah Uthman aus tränenden Augen anklagend an. Uthman fühlte sich beschämt. Hatte er alles vergessen, was er in der Bibliothek aus den Schriften der antiken Philosophen gelernt hatte? Was hatte Plato, was hatte Seneca vom Verhalten der Menschen untereinander geschrieben? Hieß es denn nicht in der Sure Al-Anfal, »Allah wollte sie nicht strafen, während sie um Vergebung suchten«? Er aber hatte wie ein blindwütiges Tier gehandelt. Plötzlich musste er über sein eigenes Verhalten weinen.
Vorsichtig löste er die blutigen Fetzen von der Haut des Verletzten, um sie später über Bord zu werden. Er zog sein eigenes Hemd aus, riss es in Streifen und verband damit die Wunden. Weil sich niemand in der Nähe sehen ließ, entnahm er seinem Bündel ein Hemd, das er vor wenigen Wochen gegen eine stattliche Summe in Cordoba erstanden hatte. Behutsam streifte er dem Knecht dieses Kleidungsstück über den Kopf. »Kannst du aufstehen?«, fragte er Laurant. »Stütze dich auf mich! Ich werde dich jetzt in deine Koje bringen. Wenn du beim Anlegen und Ankern Hilfe brauchst, rufe mich! Es wird die einzige Arbeit sein, die ich noch an Bord verrichten werde.«
»Danke«, murmelte der Schifferknecht. Er konnte nicht verstehen, warum Uthman plötzlich Tränen vergossen hatte. Dieser Junge war wirklich nicht für den rauen Beruf eines Seineschiffers geeignet. Schließlich war er der Sieger in diesem Kampf geblieben. Da gab es doch nichts zu weinen. Es war nicht zum ersten Mal, dass Laurant der Unterlegene geblieben war. Mit zunehmendem Alter geschah das leider immer öfter. Nun wünschte er fast, dass dieser geschickte Kämpfer als sein Helfer an Bord blieb. Gemeinsam wären sie unschlagbar.
»Was ist dir denn zugestoßen?«, fragte Henri, als er Uthman am Vordersteven des Schiffes begegnete. »Du blutest ja ziemlich heftig. Bist du auf die Nase gefallen?«
»So könnte man es nennen«, erwiderte Uthman. »Ich bin aus blindem Eifer, als Erster die Türme von Paris zu sehen, über einen Teil der Ankerkette gestolpert. Manchmal wird man für seinen Ehrgeiz eben bestraft.« Er beugte sich über die Reling, spuckte aus und sah einen Zahn in den Wellen verschwinden.
Sie mussten aber noch lange warten, ehe sie in der Dämmerung vom Seineufer aus die Türme des Stadtpalais vor sich liegen sahen.
»Das wird nicht einfach sein, in dieser gewaltigen Anlage bis zu den Räumen des Königs vorzudringen«, gab Uthman zu bedenken. »Als Lederwarenhändler werden wir nicht einmal von irgendeinem der Kammerherren, und schon gar nicht von Nogaret, geschweige denn von Philipp, empfangen werden.«
Joshua, der sich inzwischen eingefunden hatte, pflichtete ihm bei. »Da müssen wir uns schon etwas anderes einfallen lassen. Vor allem Uthman sieht wie ein Raufbold aus. Unter einem Lederwarenhändler stellen sich königliche Beamte mehr oder minder eine ehrbare Erscheinung vor.«
Henri dachte kurz nach und erläuterte dann seinen Plan. »Wir lassen König Philipp ein geheimnisvolles Billett zukommen, das seine Neugier weckt, vielleicht eine rätselhafte Nachricht über den Verbleib des Templerschatzes.«
Joshua machte einen Vorschlag. »Es gibt eine Art von geheimer Mitteilung, die man Kryptogramm nennt. Die würde sich eignen, um König Philipp auf eine falsche Fährte zu locken.«
Henri zuckte die Achseln. »Manchmal erschreckst du mich geradezu mit deiner Gelehrsamkeit! Kannst du mich und Uthman belehren, worum es dabei geht?«
Joshua ließ sich nicht lange bitten. »Man entwirft einen Text, dessen einzelne Teile durchaus einen eigenen Sinn haben. Wenn wir zum Beispiel als Lösungswort Malta herausbringen wollen, brauchen wir hintereinander das M, das A, das L, das T und wieder das A.«
»Das ist durchaus logisch, zumindest in eurer fränkischen Schrift«, warf Uthman ein.
Joshua ließ sich nicht weiter unterbrechen. Er hatte es nicht gern, wenn man seine Ausführungen durch irgendwelche Kommentare störte. »Ich entwerfe nun ein Kryptogramm zu dem Lösungswort MALTA:
- kein Gesunder wünscht sie sich. Lösung: Maladie (Krankheit)
- im Orient ist seine Heimat. Lösung: Arabe (Araber)
- im Wappen ist sie auch zu finden. Lösung: Lis (Lilie)
- ihr Geburtsquell liegt in Spanien. Lösung: Tage (Fluss Tajo)
- nicht irdisch ist ihr lichtes Sein. Lösung: Anges (Engel).
Habt ihr verstanden, wie das Lösungswort zustande gekommen ist?«
»Ja, natürlich!«, rief Uthman. »Wir sind doch nicht dumm.«
Henri nickte. »So ein Kryptogramm ist wirklich etwas Bewundernswertes. Man braucht aber nicht nur ein umfangreiches Wissen, sondern auch viel Phantasie. Ich schlage vor, dass wir bei Malta bleiben. Philipp muss meinen, dass der Templerschatz in Malta versteckt ist. Er wird seine Spürhunde vergeblich dorthin ausschicken.«
»Wie aber können wir nahe genug an ihn herankommen, um ihm den Todesstoß zu versetzen?«, fragte Joshua.