Henri dachte nach und entwickelte danach seinen Plan. »Wir lassen ihm das Krytogramm mit der beigefügten Nachricht zukommen, dass in dieser Geheimschrift der Ort des versteckten Templerschatzes enthalten ist. Hier liegt eine Schwachstelle, denn ich gehe davon aus, dass er das Rätsel nicht lösen kann. Er muss uns rufen lassen, und wir verlangen, dass wir ihm die Lösung nur ohne Zuhörer mitteilen werden. Wenn er sich über das beschriebene Papier beugt, wird einer von uns ihm das Messer in den Rücken stoßen.«
Joshua äußerte Bedenken. »Es gefällt mir nicht, dass wir ihm wie Meuchelmörder von hinten den Todesstoß versetzen. Er soll uns dabei in die Augen schauen.«
»Das verstehe ich«, gab Henri zu. »Wir werden ihm sagen, warum er den Tod verdient hat, und ihm dann das Messer ins Herz stoßen.«
»Das ist mir aber gar zu edel«, meldete sich Uthman zu Wort. »So ein Verbrecher wie Philipp darf nicht auf königliche Art sterben. Ich werde ihm die Kehle durchschneiden, sobald ihr eure Strafpredigt beendet habt.«
»Darüber sollten wir uns später noch unterhalten«, sagte Henri und deutete auf das Ufer. »Hinter dieser Brücke sehe ich die Türme des Palais de la Cité.«
Es war schon dunkel, als sie an dem Landungssteg für Lastkähne in Nanterre anlegten. Der Schifferknecht zwinkerte Uthman zu, als der ihm zu Hilfe eilen wollte. Uthman entnahm daraus, dass es dem so brutal Verprügelten besser ging und er keine Hilfe mehr benötigte. Er folgte Henri und Joshua, schimpfte und zeterte jedoch ununterbrochen. »Welche Finsternis!«, rief er verächtlich. »In Cordoba sind die Straßen nicht nur gepflastert, sondern zudem auch taghell erleuchtet. In diesem erbärmlichen Nest können wir von Glück sagen, dass es nicht regnet. Sonst würden wir knöcheltief im Morast versinken.«
»Beleidige nicht unsere Gastgeber!«, mahnte Joshua. »Roland und sein Bruder Robert stammen von hier und sind sicher stolz auf ihren Heimatort.«
Uthman ließ sich zwar nicht zur Ruhe bringen, senkte aber wenigstens die Stimme. »Du bist mit Sicherheit gelehrter als ich, Joshua. Aber wahrscheinlich wirst du nicht wissen, dass Cordoba schon vor etwa 400 Jahren neben Konstantinopel und Bagdad zu den größten Städten unserer Welt gehörte.« Er fluchte laut, weil einer seiner Schuhe im Morast stecken geblieben war. Joshua wollte Streit vermeiden und nahm darum zu der Lobeshymne über Cordoba keine Stellung.
Henri hielt den Augenblick für gekommen, Uthman zurechtzuweisen. »Schweige jetzt bitte! Roland hat offenbar seinem Knecht die Arbeit des Vertäuens überlassen. Denn er hat uns eingeholt und geht dicht hinter uns.«
Der Schiffseigner deutete auf ein Gebäude, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift Zur ewigen Lampe baumelte. »Dies ist der Gasthof meines Bruders.« Uthman flüsterte noch etwas von einer einzigen Lampe. Aber Henri brachte ihn mit einem Ellbogenstoß zur Ruhe.
Schwaden von Bierdunst und grölendes Gelächter schlugen ihnen entgegen, als Roland die Tür zur Schankstube öffnete. Der beleibte Wirt, um dessen Bauch kaum die blaue Schürze passte, kam hinter dem Tresen hervor, umarmte seinen Bruder und küsste ihn auf beide Wangen. »Willkommen, Roland! Setz dich nieder und berichte von deiner Flussfahrt! Wie habe ich dich um die frische Gebirgsluft beneidet!«
Sobald es die kräftige Umarmung des Wirtes zuließ, deutete Roland auf seine Begleiter. »Hier bringe ich dir drei Gäste, die bei mir an Bord waren. Sie sind Lederwarenhändler und wollen in Paris ihren Geschäften nachgehen. Es wird dein Schaden nicht sein, wenn du sie für einige Tage bei dir aufnimmst und ihre Pferde in den Ställen versorgst.«
Der Wirt betrachtete die Fremden von Kopf bis Fuß und nickte dann zufrieden. »Der Stallknecht wird Eure Pferde versorgen, und meine Frau wird Euch ein gutes Mahl bereiten. Roland weiß aus Erfahrung, dass sie die beste Köchin aus der Pariser Vorstadt ist. Ich kann mir denken, dass an Bord Schmalhans Küchenmeister war. Am fettesten werden dort immer die Ratten.«
»Beleidige mich nicht!«, rief Roland empört. »Sehen die Lederwarenhändler etwa abgemagert aus?«
»Aber tischt uns kein Schwein auf«, bat Henri, damit seine Gefährten auch an dem Mahl teilnehmen konnten. »Das haben wir schon zur Genüge gegessen!«
»Wo denkt Ihr hin!«, wehrte der Wirt ab, »hier in Paris gibt es doch köstlichen Fisch!«
Der Wirt hatte nicht zu viel versprochen. Die drei Gäste lobten die Kochkunst der Frau. Uthman fühlte sich verpflichtet, auch den Schifferknecht zu loben. »Mir hat es an Bord immer sehr gut geschmeckt. Für jemanden, der so schwere Arbeit leisten muss wie Lorant, fand ich die Mahlzeiten an Bord immer sehr wohlschmeckend.«
Die beiden anderen sahen ihn verdutzt an. Sie hätten die Bohnensuppe des Knechtes eher als Fraß bezeichnet.
Nach zwei Stunden verabschiedete sich Roland, der kräftig zugelangt hatte. »Morgen in aller Frühe müssen wir ablegen. Wenn ihr wieder einmal an Bord kommen wollt, lasst es meinen Bruder wissen! Ich nehme euch gern auf der Rückfahrt flussaufwärts mit.«
Henri umarmte den Schiffer und drückte ihm eine ansehnliche Summe in die Hand. Dieses Angebot könnte für uns durchaus wichtig, wenn nicht sogar lebensrettend werden, dachte er.
Der Wirt hatte in den Speicherräumen drei Strohlager richten lassen. Uthman sah sich um. »Ich will nicht behaupten, dass ich jemals im Palast von Cordoba zu Gast war. Aber ihr solltet doch wissen, dass es dort Unterkünfte für 14 000 Bedienstete gab. Wahrscheinlich werdet ihr es nicht für möglich halten, dass an die Fische in den Teichen und Wasserspielen täglich 12 000 Laibe Brot verfüttert wurden.«
Henri konnte seinen Ärger jetzt nicht mehr verbergen. »Vielleicht wirst du eines Tages froh sein, du unverbesserlicher Gernegroß, wenn du auch nur einen einzigen Laib Brot zu essen hast. Es ist nämlich durchaus möglich, dass unser Vorhaben misslingt und wir in einem Kerker landen. Wenn es dir hier nicht passt, dann suche dir eine andere Herberge!«
Uthman lachte. »So war das gar nicht gemeint. Wenn ich in der kommenden Nacht aus Paris zurückkehre, werde ich sicher froh sein, dieses Strohlager vorzufinden. Jetzt beabsichtige ich nämlich, mir das nächtliche Treiben in dieser Stadt anzusehen.«
Henri hätte ihn gar zu gern von diesem abenteuerlichen Plan abgehalten. »Ich glaubte, dass dich die ernsthafte Beschäftigung mit den Büchern ein wenig geläutert hätte. Aber du bist genau so geblieben, wie dein Vater dich geschildert hat, nämlich allzu leichtsinnig.«
»Alles zu seiner Zeit!«, rief Uthman. »Tempora flendi, tempora gaudendi – es gibt Zeiten, um zu weinen, und es gibt Zeiten, um sich zu freuen. Das habe ich während meines Studiums in der Bibliothek von Cordoba gelesen.« Er winkte fröhlich mit beiden Händen und polterte die Treppe hinab. Henri musste lächeln – ob Uthman wusste, dass er soeben aus der Bibel zitiert hatte? Und noch ehe er einige warnende Worte über die Unsicherheit im nächtlichen Paris hinterherrufen konnte, war Uthman verschwunden. Es war Henri jedoch nicht entgangen, dass er seine Damaszenerklinge in den Gürtel gesteckt hatte.
Joshua blickte sorgenvoll vor sich hin und schüttelte voller Bedenken den Kopf. »Vielleicht hätten wir ihn auch mit Sean und Guinivevre fortschicken sollen.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte Henri. »Aber Uthman ist ein tapferer Kämpfer und legt allen Übermut ab, wenn die Lage ernst wird. Man kann sich auf ihn verlassen.«
»Der Herr möge ihn schützen«, flüsterte Joshua und zog seinen Gebetsriemen hervor.
Aber trotz seiner zuversichtlichen Worte schlief Henri kaum in dieser Nacht. Vergeblich horchte er auf das Geräusch sich nähernder Schritte.
21
Henri schaute missmutig vor sich hin, während er in der Gaststube eine heiße Milchsuppe löffelte. Denn ausgerechnet so kurz vor der alles entscheidenden Tat hatte Uthman in der Nacht sein Schlaflager nicht aufgesucht. Er begann daran zu zweifeln, was er über die Zuverlässigkeit ihres Gefährten gesagt hatte. Heute mussten sie gemeinsam Entschlüsse fassen, wie sie weiter vorgehen wollten, um bei König Philipp empfangen zu werden.