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Knapp dreißig Minuten nach der Landung stieg er bereits vor dem direkt an der Rhône gelegenen Hotel Bellecour aus dem Taxi. Die Bäume der Allee entlang des Quai Gailleton vor dem hässlichen quadratischen Hotelbau mit seinen acht Stockwerken bogen sich unter starken Windböen. Nur noch einige wenige Blätter hingen an den Platanen. Er schaute auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Er war etwas spät dran.

»Bonsoir«, grüßte er den Portier und bat ihn, sein Gepäck direkt auf sein reserviertes Zimmer zu bringen, denn er war im Restaurant Les Trois Domes verabredet. Entgegen seiner Erwartung saß Bernhard Kleimann nicht im Restaurant in der achten Etage. Der modern-luxuriöse Speiseraum war auffallend leer. Durch die riesigen Fensterwände hindurch genoss Francis Roundell einen kurzen Blick über die Stadt. Die vier Türme des nahen Doms erstrahlten im Scheinwerferlicht. In den dunklen Fluten der Rhône spiegelten sich die Häuser der gegenüberliegenden Vergnügungsmeile der Stadt.

Seinen ehemaligen Kollege und langjährigen Freund Bernhard fand Francis in der Cocktailbar Le-Melhor direkt neben dem Restaurant. Er war der einzige Gast. Gedankenversunken saß der korpulente Mann mit dem Rücken zur Bar und stierte aus dem Fenster. In der Hand hielt er ein Glas Rotwein. Er war froh, seinen ehemaligen Kollegen wieder einmal zu sehen. Über die Jahre hinweg hatte sich ihre Freundschaft aus alten Zeiten als sehr hilfreich erwiesen. Bernie saß bei Interpol in exponierter Position. Er hatte Zugang zu allen Computern und Informationssystemen und konnte ihm damit manchmal sensible Polizeiinformationen zukommen lassen. Als Gegenleistung hatte er Bernie dafür auch hin und wieder über seine Kontakte zum internationalen Kunstmarkt bei polizeilichen Ermittlungen helfen können. Dieses Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip funktionierte hervorragend. Als Freunde vertrauten sie sich und gingen entsprechend vorsichtig mit den oftmals brisanten Daten um.

»Bernie, du alter Terrorist! Was schaust du denn so trübsinnig drein?«, begrüßte er den Interpol-Beamten lachend. Bernhard Kleimann zuckte zusammen, rutschte ungelenk vom Barhocker und umarmte Francis Roundell geradezu stürmisch.

»Mensch, Alter, ist das schön, dich mal wieder zu sehen. Gut schaust du aus! Scheinst den großen Stich gemacht zu haben mit deinem Auktionshaus. Ist ja ein richtiger edler Zwirn, den du da anhast! Wohl kein Anzug von der Stange, was?«

Der Blick des korpulenten Deutschen heftete sich auf die Schuhe seines ehemaligen Kollegen. »Na, sauber! Sehe ich da Maßschuhe an den Füßen des edlen Herrn?«

Francis Roundell blickte verunsichert hinüber zu dem Barkeeper, der die Begrüßungszeremonie seiner beiden einzigen Gäste lächelnd beobachtete.

»Komm, hör auf, mich hier zu blamieren! Lass uns lieber rüber in die Ecke am Fenster gehen und unser Wiedersehen feiern. Mensch, Bernie, ich freue mich so, dich zu sehen! Sind viele Jahre vergangen, seit wir das letzte Mal hier an der Bar saßen …«

Beide Männer setzten sich an das große Fenster und bestellten eine Flasche Rotwein. Die guten Freunde redeten über ihre gemeinsamen schönen Zeiten bei Interpol in Paris, besonders aber über die enormen Veränderungen innerhalb der Organisation nach dem Umzug im Jahre 1989 nach Lyon.

»Weiß du, Francis«, resümierte Bernhard Kleimann nach gut einer halben Stunde, »nichts ist mehr so, wie es einst war! Ich kann dir nur sagen, dass es sehr klug war, dir einen Job in der Privatwirtschaft zu suchen. Aus dem alten Interpol ist eine grauenhaft bürokratisierte, lahme Ente geworden! Mit Verbrechensbekämpfung hat meine Tätigkeit kaum mehr was zu tun. Ich schiebe Akten hin und her, mehr nicht! Seit Europa so rasant wächst, gewinnt Europol eine immer größere Bedeutung. Die sind einfach effizienter und leiden nicht unter diesen wahnwitzigen politischen Rücksichtnahmen, die seit jeher Interpol zu einem Adler mit gestutzten Flügeln machen. Den großen polizeilichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, dem Rauschgifthandel und dem Terrorismus, hat Interpol nichts entgegenzusetzen. Solange diese unrühmliche Resolution aus alten Zeiten vorschreibt, dass der politische Charakter von Straftaten im nationalstaatlichen Ermessen liegt, bleibt Interpol eine reine Verwaltungsbehörde. Du weißt ja, die Interpol-Statuten verbieten jede Hilfestellung bei politisch motivierten Delikten, bei militärischen und religiösen Angelegenheiten. Und da gibt es nun einmal zwischen den Mitgliedsstaaten höchst unterschiedliche Interpretationen. Wir sagen, der Typ ist ein Terrorist, und die anderen sagen, er ist ein Freiheitskämpfer, ein Held, dem höchste Ehre gebührt. Das kann ja nichts werden! Ist zwar schön, dass wir jetzt so wunderbare internationale Kommunikationstechniken wie das I-24/7-System haben. Das spart viel Zeit beim weltweiten Austausch von Informationen, aber ohne Exekutivrechte nutzt all das nichts! Wir verwalten das Böse der Welt und informieren quasi all unsere knapp einhundertachtzig Mitgliedsstaaten, dass es das Böse gibt. Aber das war es dann auch schon. Na ja, du kennst die Problematik ja.«

Francis Roundell hatte seinem einstigen Kollegen sehr aufmerksam zugehört. Lange hatte er auf ein Schlüsselwort gewartet, um das Gespräch auf jenes Thema zu lenken, das ihn interessierte und weshalb er extra von London nach Lyon geflogen war. Bei dem Stichwort Terrorismus sah er seine Chance gekommen.

»Deswegen habe ich den Kram damals auch hingeschmissen, Bernie. Als ich neulich las, dass Interpol aus Anlass der Flutkatastrophe in Asien jetzt eine Datenbank für DNS-Profile zur besseren Identifizierung von Vermissten und Toten erstellt, kam mir sofort der Gedanke, dass aus dem, was einmal als weltweit tätige Organisation im Kampf gegen die Kriminalität angedacht worden war, eine karitative Hilfsorganisation geworden ist. Das ist nichts für mich, Bernie! Ich bin noch immer tief in meinem Herzen ein echter Bulle. Aber du weißt ja, entgegen der Darstellungen in vielen Kriminalromanen gibt es nun einmal keine Interpol-Agenten, die Verbrecher rund um die Welt verfolgen. Nicht einmal eine Knarre dürfen die Interpol-Beamten tragen, ohne in den jeweiligen Mitgliedsstaaten freundlichst um Genehmigung fragen zu müssen, und dann wird es meistens abgelehnt. Wozu brauchen sie auch eine Waffe, sie dürfen ja sowieso niemanden festnehmen. Sesselpupser sind es, mehr nicht. Wie gesagt, das ist nichts für mich.«

Francis Roundell sah, wie sein Freund Bernie nachdenklich aus dem Fenster über das hell erleuchtete Lyon starrte. Er wusste, dass auch Bernhard Kleimann ein leidenschaftlicher Kriminalbeamter war, jetzt aber nur noch aus finanziellen und familiären Erwägungen in Lyon blieb. Bernie hatte vier Kinder. Die hohen steuerfreien Auslandszuschläge, die man als Interpol-Beamter erhielt, ließen viele Mitarbeiter dieser Organisation bleiben, obwohl sie die reine Verwaltungstätigkeit hassten. So wie Bernhard, der schon als Kriminalbeamter im einstigen 14. Kommissariat der Kripo in Bonn für politische Delikte zuständig gewesen war, danach ins Terrorismus-Referat des Landeskriminalamtes Düsseldorf und dann als deutscher Verbindungsbeamter für Terrorismus zu Interpol gewechselt war.

»Da wir ja nun schon beim Thema sind, Bernie: Kannst du mir in dieser Sache, die ich am Telefon angedeutet habe, weiterhelfen? Habt ihr da Informationen?«

Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann schaute hinüber zu dem Barkeeper, bevor er antwortete. Der junge Afrikaner hinter der Theke war zu weit weg, um ihr Gespräch belauschen zu können.

»Ja, Francis«, sagte er sehr leise, »da gibt es einige sehr interessante Sachen. Ich brauche dir ja nicht weiter zu erklären, dass ich meinen Job riskiere, wenn du nicht vorsichtig mit dem Material, dass ich dir geben kann, umgehst?«

»Bernie«, war Francis Roundell bestrebt, die Ängste seines Freundes auszuräumen, »du weißt, dass ich Quellenschutz über alles stelle. Du bist mein Freund! Wir kennen uns lange genug und brauchen uns wohl nicht über dieses Thema zu unterhalten.«