»Also gut, Francis …« Bernhard Kleimann zog einen Stapel Dokumente aus seinem Aktenkoffer. »Die beiden Überfälle in Deutschland und Florenz sind so ziemlich das heißeste Thema, das es derzeit bei Interpol gibt! Und nicht nur bei uns! Das deutsche Bundeskriminalamt, der Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz und so ziemlich alle italienischen Polizeibehörden und Geheimdienste sind extrem nervös wegen dieser Sache. Bei Interpol haben sie eine eigene Sonderkommission mit dem Namen Mraksch mit fünf Beamten eingerichtet.«
»Na ja, war ja auch ziemlich brillant, was diese Typen da abgezogen haben«, unterbrach ihn Francis Roundell und ergänzte: »Brillant – und extrem brutal! Das waren eiskalte Typen, die das geplant und durchgeführt haben …«
»Das Verrückte an dieser Sache ist«, flüsterte Bernhard Kleimann, »dass wir alle noch immer nicht genau wissen, ob das nun professionelle Kriminelle waren oder doch Terroristen! Die Tatsache, dass bei beiden Überfällen jeweils nur ein ganz bestimmter Edelstein geraubt wurde, schließt eigentlich die eine Vermutung aus. Die hätten sowohl in Bayern als auch in Florenz Berge von wertvollem Schmuck klauen können! Haben sie aber nicht. Andererseits tun sich meines Wissens so ziemlich alle Nachrichtendienste Europas mit diesem ominösen Bekennerschreiben schwer.«
»Ein Bekennerschreiben?«, unterbrach Francis Roundell seinen Freund erneut. »Erzähl!«
»Nun ja, wenn er denn authentisch ist, dann gibt es einen Bekennerbrief! Er ist auf Arabisch verfasst. Die Typen nennen sich ›Heilige Krieger der Tränen Allahs‹. Von einer solchen Gruppierung hat noch nie irgendein Terrorismusexperte in Europa je gehört. Sie haben den Brief an ein französisches Magazin geschickt. Da stehen allerdings so viele Einzelheiten drin, die nur die Täter wissen können, dass man davon ausgehen kann, dass er authentisch ist. Andererseits faseln die in einer für politisch motivierte islamische Straftäter sehr untypischen Terminologie etwas von der Rückführung der von den Kreuzrittern bei den Kreuzzügen gestohlenen Kulturgüter, die dem arabischen Volk gehören.«
»Das ist wirklich höchst seltsam. Von einer solchen Gruppierung habe ich auch noch nie gehört«, brachte Francis Roundell sein Erstaunen zum Ausdruck.
»Eben!« Bernhard Kleimann schaute kurz auf, schien dann aber das von ihm gesuchte Dokument in dem Stapel der mitgebrachten Papiere gefunden zu haben. »Hier, schau dir das mal an! Wenn die Informationen vom deutschen Bundesnachrichtendienst richtig sind beziehungsweise tatsächlich richtig gedeutet wurden, dann haben sich zwei der Täter nach Marrakesch abgesetzt. Und zwar sehr clever! Die sind mit Ambulanzflügen nach Marokko geflogen.«
Der Interpol-Mann reichte Francis Roundell ein Dokument.
»Hab bitte Verständnis dafür, Francis, dass ich bei der Kopie den Briefkopf des Originalschreibens vom BND weggelassen habe. Das Ding da ist als ›Streng geheim‹ klassifiziert. Wenn man es bei dir finden würde, wäre ich wegen Geheimnisverrats dran! Ich denke, dir reicht der Inhalt des Dokuments. Was die ganze Sache mit diesem vom BND zitierten Buch mit dem Titel Vitrine XIII zu tun hat, weiß ich allerdings nicht! Ist wahrscheinlich ein Code des BND. Weiß der Teufel für was.«
Neugierig überflog Francis Roundell das Dokument. Aus seiner Amtszeit bei Interpol wusste er die Details in den Betreff- und Verteilerzeilen sofort zu deuten. Dieses Schreiben war zum Staatsschutz nach Österreich, an das italienische Innenministerium, an diverse Abteilungen des deutschen Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln, aber auch zu seiner großen Verwunderung an die deutsche Botschaft in Rabat gegangen. Plötzlich blieb sein Blick an zwei Namen hängen. Damit hatte er nicht gerechnet. Francis gab das Dokument zurück.
»Scheint so, als seien die beiden Araber, die mit den Ambulanzflügen aus Europa geflohen sind, bereits identifiziert? Glaubt ihr, dass es die Initiatoren der beiden Überfälle oder nur Handlanger waren beziehungsweise sind?«
Auf diese Frage hatte Bernhard Kleimann gewartet. Lächelnd griff er nach seinem Weinglas und prostete seinem alten Freund Francis zu.
»Das werden wohl die Handlanger gewesen sein. Zumindest sind sie weder bei uns noch bei irgendeiner europäischen Ermittlungsbehörde bislang in Erscheinung getreten. Mit den Fingerabdrücken konnten wir nichts anfangen. Es liegen keine Erkenntnisse vor. Die beiden Namen dort sind sicherlich Totalfälschungen. Du siehst also, dass wir alle noch im Dunklen tappen. Aber sobald ich neue Informationen habe, melde ich mich bei dir, Francis. Und jetzt, alter Kumpel, lass uns diese Flasche hier leeren und über die guten alten Zeiten bei Interpol quatschen.«
Knapp zwei Stunden später erhob sich Francis Roundell, Sicherheitschef des Auktionshauses Christie’s, und verabschiedete sich von seinem Freund und einstigen Kollegen mit dem Hinweis darauf, dass er bereits kurz nach sechs zurück nach London fliegen würde. Die kopierten Dokumente, die er von Bernhard Kleimann bekommen hatte, verstaute er in seinem Aktenkoffer. Nach einer sehr herzlichen Verabschiedung verließ Francis Roundell die Bar und fuhr mit dem Aufzug hinab in den vierten Stock. Sein Freund Bernie gab vor, noch die Toilette aufzusuchen.
Kaum dass sich die Aufzugstür hinter Francis Roundell geschlossen hatte, trat Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann wieder in die Bar. Er hatte hinter der Garderobe gewartet, bis sein Freund verschwunden war. Der Barkeeper war gerade dabei, Flasche, Gläser und Aschenbecher abzuräumen.
»Stopp! Lassen Sie alles so stehen, wie es ist!«, befahl er dem mit Entsetzen auf seinen Ausweis starrenden Afrikaner.
»Interpol! Das Glas, die Flasche und der Aschenbecher da sind sichergestellt! Sie sind verpflichtet, über diese Sache hier Stillschweigen zu bewahren!«
Mit routinierten Handgriffen streifte sich Bernhard Kleimann einen Plastikhandschuh über, steckte Glas, Flasche und zwei der Zigarettenfilter von Francis Roundell in eine Plastiktüte und verließ dann die Bar.
»Das darf ich als bürokratisierter Beamter von Interpol zwar nicht«, murmelte er im Aufzug vor sich hin, »aber wenn alle Bullen dieser Welt immer nur das machen würden, was ihnen die Gesetze vorschreiben, dann wäre unsere Welt längst schon im Chaos der Kriminalität und des Terrors untergegangen …«
Um Punkt 23 Uhr 34 französischer Ortszeit verließ er das Hotel Bellecour.
Francis Roundell saß zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Bett in seinem Zimmer. Nervös paffte er eine Zigarette, drückte sie aus und zündete sich eine neue an. Sein Blick fiel auf sein Handy. Es lag nur eine Meldung vor. Jemand hatte versucht, ihn anzurufen. Ohne auf die Nummer des Anrufers zu achten, verließ er sein Zimmer, fuhr hinab zur Rezeption im Erdgeschoss. Er wusste, dass nur wenige Meter vom Hotel entfernt am Quai Gailleton eine öffentliche Telefonzelle stand. Aus seiner Zeit bei der Kripo und bei Interpol wusste er, dass es klüger war, nicht das Telefon im Hotel und schon gar nicht sein eigenes Handy für diesen Anruf zu benutzen. Die Nacht war extrem kühl. Francis Roundell fror. Das Telefonhäuschen war in einem fürchterlichen Zustand. »Hoffentlich funktioniert dieses Ding überhaupt«, schimpfte er vor sich hin und begann, die sehr lange Nummer einzutippen. Nach der Vorwahl 00212 44 brach die Leitung zusammen. Wieder und wieder versuchte er es. Er bibberte vor Kälte und fluchte. Endlich hörte er einen sehr leisen Rufton am anderen Ende. Sein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass es dort jetzt kurz vor 23 Uhr war. Hoffentlich war er da! Eine männliche Stimme krächzte schließlich ein sehr missmutiges »Qui« in den Hörer.
»Ich bin es!«, rief Francis Roundell in den Hörer. Er hoffte, dass er zu hören war und dass der Mann am anderen Ende seine Nachricht verstehen würde, als er leise sagte: »Die Namen der beiden Mitreisenden der letzten Urlaubsreise sind bekannt geworden! Das Ticket nach Wien ist daher nicht mehr gültig. Bitte ein neues Ticket beantragen. Und unbedingt das Buch Vitrine XIII kaufen. Details zu dem Buch habe ich per Mail geschickt. Das Manuskript ist in Wien verfügbar.«