Sie mochte Berlin, das neue, quirlige, ungeteilte Berlin, und reiste gern dorthin. Doch dieses Mal machte sie sich geradezu missmutig auf in die deutsche Hauptstadt. Schlecht gelaunt schlang sie das Frühstück im Flugzeug herunter. Sie war müde und fühlte sich ausgelaugt. Auch die letzten beiden Nächte hatte sie kaum geschlafen. All ihre früheren Aufträge für Christie’s waren ihm Vergleich zu diesem geradezu lächerlich gewesen. Wann immer ihr Wissen als Expertin für historischen Schmuck gefragt gewesen war, hatte es sich zumeist um eher nüchterne Schreibtischrecherchen oder Nachforschungen in Bibliotheken und in den Privatarchiven namhafter Adelshäuser gehandelt. Um für das Auktionshaus Expertisen zu Schmuck- und Kunststücken erstellen zu können, sammelte sie alle nur verfügbaren Informationen, holte Sachverständigengutachten ein, ließ Preziosen taxieren – und legte ihre Einschätzung dann den für Auktionen verantwortlichen Experten bei Christie’s vor. All das machte ihr sehr viel Spaß, es war aber alles andere als spannend. Aus diesen Zeiten kannte sie auch die Familie des Freiherrn von Hohenstein, jene Adelsfamilie, die in Bayern auf ihrem prachtvollen Schloss residierte, und die nun durch den brutalen Überfall ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt war. In deren Privatbesitz befanden sich unvorstellbar wertvolle Preziosen, Schmuckstücke, Bilder und Edelsteine. Viele dieser einmaligen Kunstwerke hatten in der Geschichte Europas eine große Rolle gespielt und wurden daher immer wieder von Museen für Ausstellungen angefordert. So wie jetzt in Berlin.
Marie-Claire lehnte sich in ihrem Flugzeugsessel zurück. Die Reise nach Berlin passte überhaupt nicht in ihre Pläne. Ihr Auftrag, sich mit dem Florentiner-Diamanten zu beschäftigen, lief nicht wie geplant. Immer, wenn sie begann, sich auf ihren eigentlichen Auftrag zu konzentrieren, wenn sie sich zu rationalen, professionellen Vorgehensweisen zwingen, Strukturen in ihre Recherche bringen wollte, geschahen unvorsehbare Dinge, die all ihre Pläne durcheinander wirbelten. Ständig kamen neue Aspekte, verwunderliche Zusammenhänge und Querverbindungen zustande. So wie jetzt mit diesem Buch, das vor ihr auf der Ablage lag. Glücklicherweise hatte sie es noch vor ihrem Abflug bekommen und konnte vom Taxi aus ihren Freund Peter anrufen, der in einem Wiener Verlag arbeitete. So wenig sie bislang von diesem Buch gewusst und gehört hatte, so überrascht war sie nämlich gewesen, als sie in der Titelei des Buches einen höchst ungewöhnlichen Vermerk entdeckt hatte.
Marie-Claire griff nach dem Buch und blätterte erneut darin. Schon die Aufmachung und der Buchtitel selbst fielen auf. Auf schwarzem Untergrund prangte in lilafarbenen und weißen Lettern der Titeclass="underline" VITRINE XIII – Geschichte und Schicksal der österreichischen Kronjuwelen – herausgegeben von XXX. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ein Buch, bei dem der offensichtlich anonyme Herausgeber mit den Buchstaben »XXX« firmierte. Als sie dann beim Lesen des Umschlagtextes auf viele interessante Details zum Florentiner gestoßen war, rief sie kurz entschlossen ihren Freund an. Er wusste sofort, um welches Buch es sich handelte. Das hatte sie sehr gewundert, immerhin waren seit seinem Erscheinen vierzig Jahre vergangen. Obendrein war das Buch nicht sonderlich bekannt – zumindest ihr hatte der Titel nichts gesagt.
Peter war sehr hilfsbereit gewesen. Nachdem sie ihm gesagt hatte, dass ihr Interesse an diesem Buch in Zusammenhang mit dem Florentiner-Diamanten stehe, hatte er um kurze Bedenkzeit gebeten, sie dann aber bereits zwanzig Minuten später, als sie schon im Wartesaal am Flughafen saß, angerufen. Was sie dann von ihm erfahren hatte, war mehr als spannend. Wie sie mittlerweile wusste, schilderte dieses Buch das mysteriöse und Aufsehen erregende Verschwinden eines Teils der österreichischen Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer im Jahre 1918, kurz vor der Flucht der österreichischen Kaiserfamilie in die Schweiz. Sensationell für sie war die Tatsache, dass zu den seither fast ausnahmslos spurlos verschwundenen Preziosen auch der Florentiner gehörte. Der Hundertsiebenunddreißig-Karat Diamant hatte im dritten Raum der Wiener Schatzkammer in der Vitrine XIII gelegen. Daher auch der Titel des Buches, das auf den Memoiren des Schweizer Juwelenhändlers Alphonse de Sondheimer basierte. Er war es gewesen, der wahrscheinlich im direkten Auftrag des im Exil weilenden österreichischen Kaisers von Genf aus Juwelen, Schmuck und Kunstgegenstände von unvorstellbarem Wert verscherbelte. Ganz offensichtlich hatte auch Sondheimer als Letzter einen der berühmtesten Diamanten des Abendlandes, den Florentiner, gesehen. Hastig blätterte Marie-Claire in dem Buch herum. Sie schüttelte fasziniert den Kopf.
»Unglaublich, unfassbar – Wahnsinn!«, murmelte sie so laut vor sich hin, das der vor ihr sitzende Passagier sich zu ihr umdrehte und sie verwundert anschaute. Was sie da an Zahlen und Details bereits erfahren hatte, ließ ihr Gänsehaut über den Rücken laufen. Hier hatte sie die akribischen Aufzeichnungen über einen der spektakulärsten Kunst- und Edelsteinhandel der letzten Jahrhunderte in der Hand. Es tauchten Summen auf, bei denen ihr schwindelig wurde. Absoluter Wahnwitz war die Schilderung, wie eines der berühmtesten Herrscherhäuser der Welt im Exil aus Geldnot Gold, Edelsteine, Schmuck und andere Wertgegenstände über dubiose Mittelsmänner verschleudert und verpfändet hatte. Prachtvolle Edelsteine waren aus Fassungen gebrochen, teils auf barbarische Weise zerstückelt und auf dem schwarzen Markt weltweit verkauft worden. Aus unschätzbar kostbaren Schmuckstücken, deren Namen seit Jahrhunderten die Inventarlisten königlicher und kaiserlicher Schatzkammern in Europa geziert hatten, waren Rubine, Saphire und Diamanten herausgeschlagen, zerteilt und an suspekte Zwischenhändler verkauft worden. Und das alles offenbar von diesem Schmuckhändler Sondheimer – im persönlichen Auftrag des letzten Kaisers von Österreich!
Marie-Claire fragte sich, ob das alles stimmte, was in diesem kleinen Büchlein geschrieben stand. Warum der Herausgeber anonym geblieben war? Und warum war dieses sensationelle Buch nie bekannt geworden? Was hatte ihr Freund gesagt? Sie überflog ihre handschriftlichen Notizen, die sie sich während des Telefonats gemacht hatte: »… es beruht auf den handschriftlichen Aufzeichnungen von Sondheimer … ging an den Bestsellerautor Robert Neumann … hat für eine Veröffentlichung gesorgt … von der Familie Habsburg dementiert … gerichtliche Auseinandersetzungen … Sondheimer ins Gefängnis gekommen … emigriert … eine handschriftliche Abschrift des Originalmanuskripts existiert noch …«
Marie-Claire atmete tief durch. Ob in diesem Originalmanuskript vielleicht stand, wohin der berühmte hundertsiebenunddreißig-karätige Florentiner damals in der Schweiz, im Jahre 1920, verschwunden war und vor allem wer ihn gekauft hatte? War dieses geheimnisvolle Manuskript vielleicht der goldene Schlüssel zu ihren Recherchen? Stand darin vielleicht sogar, worin die Verbindung zwischen dem Florentiner und den beiden Sancy-Diamanten tatsächlich bestand? Welches Geheimnis verbarg sich hinter den einst im Besitz von Karl dem Kühnen befindlichen »drei Brüdern«? Existierte dieser legendäre Florentiner tatsächlich noch? Oder war er damals in der Schweiz zerstückelt worden? Jagte sie einer Legende hinterher?
Plötzlich wurde es Marie-Claire heiß und kalt, denn eine wichtige Frage drängte sich ihr auf: Wusste Gregor von dem Buch – und von diesem Manuskript?
Kaum in Berlin gelandet, schaltete Marie-Claire de Vries ihr Handy wieder an. Während sie auf ihren Koffer wartete, starrte sie nervös auf das Display. Eine Mailbox-Nachricht und eine SMS wurden angezeigt. Die SMS war von Gregor.