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10. Kapitel

Eine Stunde später hatten alle geladenen Gäste das Grand Hotel Esplanade verlassen. Marie-Claire dagegen war noch immer mit Sanjay Kasliwal ins Gespräch vertieft. Die beiden saßen in einer Nische in Harry’s New York Bar, nur wenige Schritte vom Hotel entfernt.

Für Marie-Claire war das Zusammentreffen mit diesem Inder ein in jeglicher Hinsicht außergewöhnliches Erlebnis. Sie kannte Sanjay Kasliwal erst seit zwei Stunden, aber sie wusste über ihn bereits unendlich viel. Sie konnte sich nicht erklären, woher diese seltsame Vertrautheit rührte. Der Gleichklang, der sich zwischen ihnen in so kurzer Zeit entwickelt hatte, war die Basis wunderbar offener Gespräche. Sie plauderten und lachten, versanken in philosophische Betrachtungen und trieben durch die Nacht. Sie spürte, dass er sie als Mensch schätzte. Sein Interesse galt allein ihr, jenseits jeglicher gesellschaftlicher oder geschäftlicher Intentionen. Sanjay Kasliwal erzählte von sich, seinem Leben in Indien, seinen Wünschen, Träumen und Illusionen. Sein Bruder und er waren begeisterte Polospieler, er hatte sich jedoch vor Jahren beim Polo am Bein schwer verletzt und brauchte daher jetzt einen Gehstock. Sie erfuhr, dass sein Bruder im Januar zum Winter-Poloturnier nach St. Moritz reisen würde, und er selbst hatte sich in Europa mit mythologisch-religiösen Themen im Zusammenhang mit Edelsteinen beschäftigen wollen. Deshalb war er zu dieser Abendveranstaltung von Christie’s gekommen.

Marie-Claire fühlte, dass sie diesem Mann vertraute, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben einem Fremden, und schon gar nicht einem Mann, vertraut hatte. Irgendetwas verband sie tief in ihren Seelen, und das Schöne daran war, dass weder er noch sie wissen wollten, was es war.

Das war vielleicht der wahre Grund ihrer unbedarften, von Lachen, Witz und doch so erfrischender Tiefsinnigkeit geprägten Gespräche. Dieser Mann mochte sie, und sie mochte ihn. Sanjay war fraglos ein attraktiver Mann. Groß, schlank und ehemals sehr sportlich hatte er sich lässig-selbstbewusst zwischen all den adligen Gästen des Abends bewegt. Seine sehr angenehme Zurückhaltung verlieh ihm eine ganz besondere Aura. Seine Augen sprühten vor Leben, sein dezenter Charme war umwerfend, sein Lächeln gewinnend. Und doch verspürte Marie-Claire keinerlei sexuelles Verlangen. Nur zögerlich, fast schon widerwillig sprach er über seine Ausbildung an einem Elite-Internat in der Schweiz. Er hatte Philosophie, Wirtschaftswissenschaften und Jura studiert, natürlich an den renommiertesten Universitäten. Auch dazu äußerte er sich kaum. Und über Geld sprach er schon gar nicht. Den Erzählungen ihrer Kollegin Viktoria, die aus beruflichen Gründen die Vita eines jeden ihrer Kunden kannte, hatte sie entnommen, dass sein Reichtum geradezu legendär war. Er hatte längst jene Dimension erreicht, die nicht mehr mit Zahlen zu vermitteln war. Daher glaubte sie Sanjay sofort, als er erzählte, niemand in seiner Familie wisse genau, welchen Wert all die in ihrem Edelstein-Palast in Jaipur in Kisten und Vitrinen aufbewahrten Edelsteine und Schmuckstücke hätten.

»Marie-Claire«, hörte sie ihn plötzlich sagen, während im Hintergrund ein Pianospieler Beethovens Mondscheinsonate zu spielen begann, »Sie sollten wissen, dass viele Menschen in Indien zu den materiellen Seiten unseres irdischen Daseins eine eher metaphysische Einstellung haben! Der wahre Wert eines Edelsteins liegt für uns daher tief verborgen. Für mich entscheidet nicht der materielle Wert über dessen Schönheit, sondern die Farbe des Steins und sein Verschmelzen mit der Fassung, mit den irdischen Gegebenheiten bringen seine Einzigartigkeit hervor! Daher freue ich mich auch, dass sich die Zeiten in Europa und in Amerika allmählich wandeln. Diamanten werden hier zwar nach wie vor wegen ihres Wertes und der Wertbeständigkeit gekauft, faktisch ist es jedoch so, dass immer mehr Menschen Schmuck unter Modeaspekten erwerben. Und Mode ist nun einmal eine Frage von Stil und Design, also eine Frage der Schönheit.«

Marie-Claire atmete tief durch. Sanjay katapultierte sie schon den ganzen Abend mit solchen Aussagen in neue geistige Dimensionen. Und das gefiel ihr. Es entsprach ihrem persönlichen Denken und Fühlen, ihren Neigungen, was er so perfekt auszudrücken verstand. Bei ihrer Arbeit hatten solche Aspekte freilich kaum Bestand.

»Aber Sie handeln mit diesen Steinen, Sanjay! Für Sie als Schmuckhändler werden Edelsteine nach realen Kriterien eingeschätzt und in ihrem Wert bestimmt! Sie orientieren sich doch daran, ob es nun ein lupenreiner Diamant ist, also einer ohne nur mittels Zehnfach-Lupe erkennbare Einschlüsse, oder ob es ein VS2, also einer mit schwer erkennbaren Einschlüssen ist. Und da Gewicht und Größe eines Diamanten nun mal in einer berechenbaren Abhängigkeit zueinander stehen, so dass von dem Durchmesser auf das Karat-Gewicht geschlossen werden kann, bleibt letztendlich nur noch die Frage nach dem Cut, also dem Schliff, der den Wert des Steins für den Händler ergibt. In den Händen des Diamantenschleifers wird dann aus dem Diamanten entweder ein quadratischer Princess, ein ovaler Marquise, ein runder Brillant oder ein perlenförmiger Pear. Das sind doch die Kriterien, die den Wert eines Diamanten für Sie ausmachen! Für Sie sind sie eine Ware, leblose Materie – oder?«

»Das ist nicht ganz richtig, Marie-Claire. Immer mehr Menschen kommen zu uns und bitten um die Anfertigung eines Schmuckstücks, bei dem es nicht um die Frage Diamant, Rubin, Saphir oder Smaragd geht. Diese Menschen orientieren sich an Farben. Sie sehen in dem unverwechselbaren Licht, das in jedem Halb- oder Edelstein verborgen liegt, eine größere Bedeutung als in dem Wert eines Diamanten, dessen Preis sich letztendlich an Details orientiert, die sich erst unter der Lupe zeigen, also für das menschliche Auge mehr oder minder unsichtbar sind. Mir gefällt es, wenn Kunden sagen, sie möchten eine Halskette mit Steinen in einer bestimmten Farbe oder ein Arrangement bestimmter Farben, akzentuiert mit einem Edelstein, dessen Schönheit sich nicht allein an seiner Reinheit orientiert. Sich der Schönheit und Einmaligkeit dieses Schmuckstücks bewusst zu sein ist bedeutsamer als das Benennen eines Preises. Solche Menschen sind mir lieber als jene, die kommen und einen Einkaräter in ›slightly tinted white‹ wollen.«

Die Natürlichkeit dieses Mannes begeisterte Marie-Claire. Er hatte nichts Kapriziöses. So, wie er sich gab, so sprach er auch über Edelsteine. Sanjay hielt regelmäßig Schmuckstücke von unvorstellbarem Wert in der Hand und besaß sie auch. Dennoch schien er völlig immun gegen weltliche Werte, war ganz Ästhet und gestand Edelsteinen offensichtlich eine Art inneren Wert und Bedeutung zu.

Plötzlich wirkte Sanjay sehr ernst. Fast unangenehm lange schaute er ihr in die Augen.

»Marie-Claire, Sie sind eine Frau, die weiß, was ich denke, was ich fühle. Sie wissen es – und Sie verstehen es! Denn auch Sie haben mit Ihrem Beruf etwas zum Inhalt Ihres Lebens gemacht, das neben den schnöden materiellen Aspekten viel Seele in sich trägt. Das, und nicht nur das, verbindet uns. Deswegen möchte ich Ihnen von einer indischen Überlieferung erzählen, die Ihnen helfen möge, mich noch besser zu verstehen. Denn das, Marie-Claire, würde meiner Seele sehr schmeicheln …«

Fasziniert von der Ruhe, mit der Sanjay Kasliwal sprach und sie dabei so unglaublich tiefgründig anschaute, glaubte Marie-Claire für Momente, sie müsse erröten. Aber sie fühlte, dass das nicht geschah. Sie hatte nur eine Erklärung dafür: Vertrauen! Ja, zu diesem Menschen hatte sie Vertrauen, etwas, das sie noch nie in ihrem Leben gehabt hatte. Schon gar nicht zu einem Mann …

Sanjay lächelte. Sie hatte das Gefühl, er habe ihre Gedanken gelesen. Sie lehnte sich im Sessel zurück und signalisierte damit, dass Sie ihm zuhören wollte.

»In meiner Heimat, Marie-Claire, sagt man, dass Diamanten die Tränen Gottes sind. Denn nur so ist für uns dieses einzigartige, unverwechselbare und in seinem Farbspektrum kosmisch-schöne innere Feuer, das ein jeder Diamant in sich trägt, zu erklären. Und weil dem so ist, wurden Diamanten immer wieder als Augen von Götterstatuen verwendet.«