Выбрать главу

Marie-Claire stockte der Atem. Sie ahnte, ja wusste, was jetzt kommen würde.

»Beim Untergang der Maharadscha-Reiche versteckten meine Vorfahren ihre heiligen Schätze, den Familienschmuck, Edelsteine und uns heilige Insignien, im Inneren einer hohlen Statue. Sie war mehrere Meter hoch, aus dem Fels herausgeschlagen und somit auf immer mit dem Fels verbunden. Die Statue war so schwer, dass selbst fünfzig Männer sie nicht hätten wegtragen können. Drei Augen hatte diese Statue – drei große, ungewöhnlich reine Diamanten. Diese drei Tränen Gottes waren mit einem nur wenigen Familienangehörigen bekannten Mechanismus kombiniert. Nur wenn die Sonne an einem ganz bestimmten Tag im Jahr in einem bestimmten Winkel über dieser Statue stand, wenn das Licht der Sonne durch die drei Diamanten hindurch ins Innere der Statue fiel, ließ sich dieses Heiligtum öffnen. Denn jeder Diamant hat, wie Sie selbst ja wissen, ein unverwechselbares inneres Feuer, das sich aus dem Licht des Tages nährt. Und so war vorbestimmt, dass nur die Träger dieses Geheimnisses, ehrwürdige Männer unserer Familie, in der Lage sein würden, dieses Heiligtum zu öffnen, wenn Gottes Zeichen ihnen kundtun würde, es zu tun. Und damit keine Schurken, keine Unwürdigen sich mit Gewalt Zugang zum Inneren dieser Statue verschaffen konnten, war diese Statue mit einem zweiten Mechanismus versehen, der alles Irdische zerstört, würde der Steinkoloss gewaltsam geöffnet werden.«

Marie-Claire wurde von Gefühlen und Gedanken übermannt. Sie hatte von dieser Götterstatue schon gehört – vor wenigen Wochen erst. Francis Roundell hatte bei ihrem Treffen im Café Landtmann in Wien davon gesprochen und diese Geschichte als Legende bezeichnet. Und er hatte sie im Zusammenhang mit dem Florentiner erzählt! Nun saß ein Mann vor ihr, dessen Aura sie völlig verwirrte, und erzählte ihr genau diese Legende, die ganz offensichtlich keine Legende war. Zaghaft fragte sie: »Warum erzählen Sie mir all das, Sanjay?«

»Weil ich spüre, nein, ich weiß, Marie-Claire, dass Ihr und mein Karma in einer wundersamen Weise dazu auserkoren sind, den Willen des Schöpfers mit Leben zu erfüllen, seinen Wunsch zu erfüllen!«

»Seien Sie mir bitte nicht böse, Sanjay«, flüsterte Marie-Claire de Vries, »Ihr Vertrauen, Ihre Herzlichkeit und Ihre Worte verwirren mich. Ich verstehe all das nicht!«

Sanjay Kasliwal lächelte sie voller Herzenswärme an.

»Ich kann, ich darf Ihnen leider nicht alles erklären, Marie-Claire. Es hat mit einem Traum, mit einer Prophezeiung zu tun, die mein Großvater, der Allmächtige sei seiner Seele gnädig, hatte. Träume sind Geschenke Gottes. Man darf nicht darüber reden, denn dann verflüchtigen sie sich. Aber man muss ihnen folgen. Sie, Marie-Claire, müssen dieser Prophezeiung nicht folgen, aber Sie könnten es, Sie können mir helfen, den Traum, die Prophezeiung zu erfüllen – wenn Sie es wollen.«

»Was muss ich tun?« Marie-Claires Stimme zitterte ebenso wie ihre Hände.

»Grabräuber, seelenlose Schurken haben dieses Heiligtum unserer Familie und unseres Volkes entweiht, sie haben die drei Diamanten, die göttlichen drei Brüder, die Augen, die Tränen Gottes aus der Statue herausgeschlagen. Das geschah vor vielen hundert Jahren. Seither ist der Zugang zu dem Schatz und zu den heiligen Insignien unseres Volkes für immer verhindert. Ich weiß, wo diese Statue versteckt ist! Und ich weiß, dass ich dazu auserkoren bin, diese Tränen Gottes, die Diamanten zu finden. Ich suche die göttlichen drei Brüder. Deswegen bin ich in Europa. Sie gehören meinen Vorfahren, meinem Volk. Es ist ein nationales Heiligtum. Nicht der Schatz, nicht der materielle Wert der Diamanten, der Juwelen, des Goldes und Silbers interessiert mich. Ich will, dass mein Volk das zurückbekommt, was ihm seit Jahrtausenden gehört. Es schien mir in den letzten Jahren ein schier aussichtsloses Unterfangen. Die Spuren dieser drei prachtvollen Diamanten haben mich rund um die Welt geführt. Ich glaube zu wissen, dass sie von Indien in den Nahen Osten gelangt sind. Dort, so vermute ich, gingen sie in den Besitz der Kreuzritter, höchstwahrscheinlich der Templer. Es geht die Sage um, dass die drei Diamanten zum legendären Schatz der Templer gehörten, wobei ich mittlerweile der festen Überzeugung bin, dass es diesen Schatz der Templer so, wie man sich ihn gemeinhin vorstellt, gar nicht gab. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Templer wussten, dass die drei Diamanten zu jener Götterstatue gehörten, in deren Innerem unvorstellbare Schätze lagen und noch immer liegen. Das, Marie-Claire, ist meine Vermutung. Und ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, die Steine zu finden – um meinem Volk dieses heilige Eigentum zurückgeben zu können!«

Sanjay Kasliwal schwieg für einen Moment. Er schien höchst konzentriert. Sein Blick war fest auf Marie-Claire de Vries gerichtet. Mit ernsthafter Miene sprach er weiter: »Edelsteine von solch ungewöhnlicher Größe und Schönheit hinterlassen Spuren, weil sie Begehrlichkeiten wecken. Die Gier der Menschen nach solchen Edelsteinen hinterlässt Spuren. Zumal diesen Diamanten nachgesagt wird, dass sie seit der Entfernung aus der Statue mit einem Fluch belegt sind, der Unheil über ihre neuen Besitzer bringt. Wir beide wissen, dass dem so ist, denn dieser Fluch hat Spuren hinterlassen. Ich bin ihnen gefolgt – hier im Abendland. Was das Ganze schwierig macht, ist die Tatsache, das es von zumindest einem dieser Edelsteine eine Kopie gibt. Die Ähnlichkeit dieser Kopie mit dem Original ist so frappierend, dass ich nicht immer sicher bin, ob ich nun der Spur einer Kopie folge oder jener des Originals.«

Marie-Claire zitterte nicht nur innerlich. Was Sanjay ihr in geradezu erschreckender Offenheit mitteilte, war in seinen Dimensionen so unglaublich, dass es nicht alleine mit seinem Vertrauen zu ihr zu erklären war. Warum erzählte er ihr das? Warum offenbarte er Details über ein Geheimnis, das mit schier unvorstellbaren materiellen Werten verknüpft war? Er kannte sie doch überhaupt nicht! War es Taktik? Wollte er ihr Informationen entlocken? Oder war er einfältig? Nein, das war dieser Mann ganz sicher nicht! Aber man erzählte doch einem fremden Menschen nicht solche Dinge! Oder doch?

Nervös nippte sie an dem Rotwein und zündete sich eine Zigarette an. Sie entschied sich, vorsichtig und doch ehrlich zu sein.

»Einer jener drei Diamanten, von denen Sie sprechen, Sanjay, wird jetzt der Florentiner genannt, richtig?«

Gebannt starrte sie ihn an. Er antwortete, ohne lange zu überlegen und sehr ruhig. Sie sah, dass er die Wahrheit sagte.

»Ja, das stimmt!«

»Und Sie sagen, es gibt eine Kopie?«

»Ja! Und das wissen Sie, Marie-Claire! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie als Wienerin und als renommierte Expertin für historischen Schmuck nicht wissen, dass in der Wiener Schatzkammer eine solche Kopie dieses Diamanten, den Sie Florentiner nennen, existierte.«

»Nein, davon weiß ich wirklich nichts!« Marie-Claire riss die Augen weit auf. Ihre Überraschung war nicht gespielt.

»Ja, es existierte eine! Und vielleicht gibt es sie noch immer«, sprach Sanjay Kasliwal weiter. »Die Wiener Schatzkammer hatte meines Wissens Mitte des 18. Jahrhunderts unter Leitung eines Mannes mit Namen Joseph Angelo de Frances den Charakter einer Kunstkammer bekommen. Später wurde dann sogar ein eigenes Juwelenzimmer eingerichtet. In dieser Zeit lag eine Kopie in diesem Juwelenzimmer – und zwar zusammen mit dem auch damals schon Florentiner genannten Original, ein Hundertsiebenunddreißig-Karäter mit gelblichem Schimmer. Sowohl das Original als auch die Kopie sind aber verschwunden.«

Dieser Mann aus Indien, das war Marie-Claire klar, war ein absoluter Kenner von Edelsteinen, ein Experte – und auch ein Experte, was den Florentiner betraf. Nein, sie hatte nichts von einer Kopie in der Wiener Schatzkammer gehört. Sie wusste lediglich, dass der Florentiner im Jahre 1919 zusammen mit anderen Edelsteinen, Schmuck und Preziosen von der kaiserlichen Familie aus der Vitrine XIII der Schatzkammer entnommen und als Habsburger Privatschmuck in die Schweiz geschafft worden war. Siedend heiß fiel ihr plötzlich eine Passage aus jenem Buch ein. Der Schmuckhändler Alphonse de Sondheimer hatte sich maßlos enttäuscht über die mindere Qualität des Florentiners ausgelassen. Mein Gott, durchzuckte es Marie-Claire. Hatte der österreichische Kaiser bei seiner Flucht in die Schweiz etwa gar nicht den Florentiner, sondern eine Kopie mitgenommen? Hatte über Jahrhunderte hinweg nur eine Kopie dieses legendären Diamanten in der Wiener Schatzkammer gelegen? Konnte das sein? War es möglich, mit den damals verfügbaren technischen Mitteln eine täuschend echte Kopie eines solch großen Diamanten herzustellen? Wenn das aber nur eine Kopie gewesen war, wo war dann das Original?