Knapp eine Viertelstunde später verließ Marie-Claire de Vries Harry’s New York Bar. Die Uhr in der Hotelrezeption zeigte bereits fünf Uhr am Morgen an. Sie war völlig erschöpft und zugleich aufgedreht. Dieser Mann in der Bar – wer war das gewesen? Litt sie schon unter Halluzinationen, unter Verfolgungswahn?
»Du hast einen Knall, Marie-Claire de Vries«, murmelte sie im Hotelaufzug vor sich hin und versuchte, ihre wahnwitzigen Gedanken zu verdrängen. Doch irgendetwas stimmte da nicht! Etwas an diesem Mann mit dem schütteren Haar und der Krücke in der Bar war seltsam gewesen. Mit Sanjay Kasliwal war sie so verblieben, dass er sich in Kürze bei ihr in Wien melden würde. Er hatte ihr von seinen Reiseplänen erzählt.
»Ich folge der Seele des Florentiners«, hatte er gesagt und von Besuchen in Grandson, Florenz und Paris gesprochen. Sie war sich einerseits im Klaren darüber, dass diese in der Historie des Florentiner-Diamanten einst so bedeutsamen Orte und Städte für ihre Aufgabe nicht wirklich von Relevanz waren, andererseits spürte sie ein sehr ausgeprägtes Verlangen, Sanjay wiederzusehen. Der Gedanke, mit ihm zu diesen Orten zu fliegen, mit ihm zu diskutieren und ihm zuzuhören, reizte sie maßlos. Ja, sie wollte mehr über ihn wissen, denn sie genoss seine Gegenwart. Das für sie wirklich Faszinierende daran war, dass sie spürte, dass es keines jener üblichen Verlangen nach der Nähe eines Mannes war. Aber was war es? Und wer war dieser Mann in der Bar gewesen? Er hatte den ganzen Abend in der Bar verbracht und war zur selben Zeit wie sie dort aufgetaucht. Eigentlich hatte sie ihn ständig registriert, ihm aber keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem hatte er sich ihnen gegenüber sehr desinteressiert gezeigt. Nur für Bruchteile von Sekunden hatte sie Blickkontakt mit ihm gehabt, als sie die Bar verlassen wollten. Beim Aufstehen hatte sie ihm und er hatte ihr ganz kurz in die Augen geschaut, und genau dieser Moment hatte bei ihr ein eigentümliches Gefühl ausgelöst. Ein Satz von Francis Roundell war ihr in den Sinn gekommen: »Der Verräter verrät sich durch das Gedankengut des Verräters – und seine Augen sind seine Lippen.« Wie wahr! Wer log, verriet sich schnell durch eine ungewöhnliche Reaktion seines Körpers. Manche wurden rot bei der Lüge, andere hüstelten, wiederum andere Menschen kratzten sich am Kopf oder glaubten, sich durch das Verschränken der Arme vor verräterischen Reaktionen zu bewahren. Und manchen Menschen konnte man die Lüge in den Augen ablesen. So wie diesem Mann. Doch was war an ihm so auffällig? Der vielleicht Fünfundvierzigjährige hatte nur da gesessen, einige Bier getrunken und geschwiegen. Er hatte einen Gipsfuß. Seine Krankenhauskrücke lag die ganze Zeit quer über seinen Oberschenkeln. Seine Aktentasche stand neben dem Sessel.
Der Aufzug hielt in der fünften Etage des Hotels. Die Türen öffneten sich. Plötzlich lief Marie-Claire ein Schauer über den Rücken. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Ihre Müdigkeit war wie weggefegt. Die Erkenntnis war wie ein Schock, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzte. Ja, natürlich! Die Krücke! Die Krücke dieses Mannes hatte über nahezu vier Stunden quer auf seinem Schoß gelegen. Nicht ein einziges Mal war er aufgestanden, hatte sich nicht um einen Millimeter bewegt. Und das, obwohl er sicherlich sechs bis acht Glas Bier getrunken hatte. Der Mann war dort wie eine Statue sitzen geblieben. Mit einer Tasche neben sich. Und mit einem Krückstock, der keinen Gummipfropfen am unteren Ende hatte. Ein Krückstock, der die ganze Zeit mit dem unteren Ende in ihre Richtung gezeigt hatte. Ja, das war es! Zehn Minuten später lag Marie-Claire de Vries im Bett. Sie war hellwach. Um acht Uhr würde Francis Roundell in seinem Büro sein. Dann würde sie ihn anrufen und fragen. Ja, sicherlich würde er es wissen. Er mit seiner beruflichen Vergangenheit als Kriminalbeamter wusste bestimmt, ob es technisch möglich war, in eine solche Krücke ein Richtmikrofon einzubauen. Ein Richtmikrofon, mit dem man das Gespräch am Nebentisch abhören konnte. Francis wusste so was. Aber sollte sie Francis wirklich fragen? Wieso, dachte sie plötzlich, musst du eigentlich darüber nachdenken, ob du ihn fragst? Wieso hast du Zweifel? Erklären konnte sie sich das nicht wirklich. Sie wusste nur, dass eine innere Eingebung ihr nahe legte, vorsichtig zu sein. Auch gegenüber jenem Mann, der ihr den Auftrag gegeben hatte, den Verbleib des Florentiner-Diamanten zu recherchieren. Wie auch immer: Um acht Uhr würde sie ihn anrufen.
11. Kapitel
Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann jubelte innerlich und war zugleich sehr irritiert. Die Abendsonne traf auf das Fenster seines Büros in der Interpol-Zentrale in Lyon. Er atmete tief durch. Seine Intuition hatte sich als richtig erwiesen. Dennoch, das, was sich nun aus den neuen Erkenntnissen an Schlussfolgerungen aufdrängte, überforderte seine Fantasie. Nochmals überflog er die Mitteilung, die er vor wenigen Minuten über das interne I-24/7-System vom Deutschen Bundeskriminalamt erhalten hatte:
… Fingerabdrücke und genetische Merkmale des von Ihnen vorgelegten Datenträgers (Glas) und der Zigarettenreste sind zweifelsfrei identisch mit der von Ihnen benannten Person. Die von Ihnen übermittelten Personaldaten stimmen überein mit den hier beim BKA vorliegenden Erkenntnissen. Die Person wurde im Rahmen eines Einstellungsverfahrens bei Interpol Paris erkennungsdienstlich behandelt. Weitere Daten und Informationen können Ihnen aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht übermittelt werden, da die benannte Person nicht mehr Angehörige von Interpol ist.
Des Weiteren können wir jedoch bestätigen, dass diese Person vor drei Jahren im Rahmen einer Observation der BKA-Staatsschutzabteilung in Zusammenarbeit mit den Kollegen von der BKA-Abteilung Rauschgift sowie marokkanischen Exekutivbehörden in Rabat festgestellt und fotografiert worden ist. Zielperson war der tunesische Staatsangehörige
Jilam REZAIGUI
geb. 07.12.1960 in Tunis/Tunesien
Rezaigui besitzt zudem amtliche Personaldokumente auf unterschiedliche Aliasnamen aus Marokko, Syrien und dem Irak, darunter legale diplomatische Pässe und Dienstausweise. Jilani Rezaigui stand und steht im dringenden Verdacht, Mitglied zu sein bzw. zum Führungskader einer irakisch-marokkanisch-libanesisch-syrischen Gruppierung zu gehören. Diese Gruppe hat direkte Verbindungen zu islamisch-fundamentalistischen Terrorzellen und finanziert sich vornehmlich durch Rauschgifthandel (Heroin/Haschisch) aus dem libanesischen Bekaa-Tal. Erkenntnisse zu anderen Varianten der Beschaffungskriminalität dieser Gruppierung (u.a. Schutzgelderpressung, Waffenhandel und Kunstraub) liegen hier vor. Alle staatsschutzrelevanten Erkenntnisse sind als STRENG GE-HEIM klassifiziert. Wir bitten diesbezüglich um eine formelle Erkenntnisanfrage an die zuständige Abteilung des BKA. Ein Zugriff konnte in Rabat nicht erfolgen, weil Jilani Rezaigni einen exterritorialen Status als Mitglied der Kulturabteilung der irakischen Botschaft in Rabat innehatte. Die konkrete Verbindung zwischen Jilani Rezaigui und Francis R. konnte nicht zweifelsfrei verifiziert werden. Die Vermutung stand im Raum, dass Francis R. sich im Rahmen des Rückkaufs eines geraubten Kunstgegenstandes zu Verhandlungen im Auftrag einer Versicherungsgesellschaft in Marokko aufhielt. IPOL Neu-Delhi meldete im Jahre 2004 auffällig intensive Reisebewegungen des Jilani R. in Indien.
MfG
Meyer-Müllndorf, KHK Bundeskriminalamt
Bernhard Kleimann stand auf und ging in seinem Büro umher. Viele Fragen drängten sich ihm auf. Diese Angelegenheit war hoch brisant. Und wieder einmal war Zufall mit im Spiel gewesen. Hätte er vor zwei Wochen nicht im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Interpol-Sonderermittlungsgruppe Mraksch in einigen alten Akten über marokkanische Terrorgruppierungen zufällig diese Observationsfotos gesehen, wäre er nie über diese höchst eigentümliche Verbindung zwischen seinem alten Freund und Exkollegen Francis Roundell und der nun anhängigen Ermittlung gestolpert. Es war nur ein Verdacht gewesen, denn das Observationsfoto zeigte zwar den Araber Jilani Rezaigui ganz klar, der Mann im Hintergrund war jedoch nur unscharf abgebildet. Dennoch war Kleimann die Ähnlichkeit sofort aufgefallen. Zunächst hatte er seinen ersten Verdacht als geradezu aberwitzig abgetan. Als sich dann wenige Tage später völlig unerwartet Francis Roundell bei ihm gemeldet und um ein persönliches Gespräch unter »alten Freunden« gebeten hatte, war ihm das nach zwanzig Dienstjahren doch als zu viel des Zufalls erschienen. Und nun lag dieses Schreiben des Bundeskriminalamtes auf seinem Schreibtisch. Es bestand absolut kein Zweifeclass="underline" Sein alter Freund und Kollege Francis Roundell hatte vor einigen Jahren direkten Kontakt zu diesem Jilani Rezaigui gehabt. Warum, das war nicht ganz klar. Vielleicht war er tatsächlich als Kunstexperte mit dem Rückkauf gestohlener Kunstgegenstände beschäftigt gewesen. Solche Deals zwischen Kunsträubern und Versicherungsgesellschaften liefen immer unter extremster Geheimhaltung ab, zumal sie letztendlich illegal waren, von den Ermittlungsbehörden jedoch mehr oder minder stillschweigend geduldet wurden. Die Versicherungsgesellschaften zeigten sich im Gegenzug manchmal sehr kooperativ und übermittelten nach einem heimlichen Rückkauf die ihnen vorliegenden Erkenntnisse. Zu Festnahmen kam es dennoch höchst selten.