Ja, dachte Hauptkommissar Bernhard Kleimann, eigentlich sprach einiges dafür, dass Francis Roundell einer dieser heiß begehrten Vermittler war, die im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität arbeiteten. Seine berufliche Vita sprach dafür. Als Exkriminalbeamter und Interpol-Beamter mit viel Erfahrung im Betrugsdezernat und nun Sicherheitschef eines Kunst-Auktionshauses hatte er eigentlich all das Know-how, das solche Versicherungsagenten haben sollten. Sie brauchten diese Erfahrungen, wenn sie Dieben und Räubern die gestohlene Ware abkaufen wollten, für die Versicherungen ansonsten viel Geld an den Versicherungsnehmer zahlen müssten. In diesem Zusammenhang war der Diebstahl der so genannten »Saliera«, des goldenen Salzfasses von Benvenuto Cellini, das im Mai 2003 aus dem Kunsthistorischen Museum Wien gestohlen worden war, in die Schlagzeilen geraten und auch Thema einer Sonderkonferenz bei Interpol geworden. Der Versicherungswert dieses unersetzbaren Kunstwerkes, das hatte er als Mitarbeiter der damaligen Interpol-Sonderkommission erfahren, war nicht einmal konkret zu beziffern. Fest stand lediglich, dass die involvierte UNIQA-Versicherung im Höchstfall eine Summe von zirka sechsunddreißig Millionen Euro im Einzelschadensfall zahlen müsste, würde das gestohlene Objekt nicht nach drei Jahren wieder auftauchen. Da war viel Spielraum für die Kunstagenten! Wenn es ihnen beispielsweise gelänge, die Saliera für einen Bruchteil der Versicherungssumme, also erfahrungsgemäß zirka zwanzig Prozent, von den Dieben zurückzukaufen, dann würde die Versicherung eine unvorstellbare Summe sparen. Diebe wie Kunstagenten wären gleichermaßen glücklich, denn die Erfolgsprämie läge sicherlich bei zehn Prozent des Versicherungswerts. Ein solcher Agent könnte dann bei einem Deal wie bei der Saliera schnell mal einige Millionen einstecken – plus der ohnehin ausgelobten siebzigtausend Euro Belohnung!
So etwas wusste Francis Roundell natürlich. Er war ein alter Fuchs und ein erfahrener, sehr cleverer Ex-Bulle. Fakt aber war jetzt, dass Francis offensichtlich sehr engen Kontakt zu höchst gefährlichen Leuten gehabt hatte. Oder noch hatte. Denn dieser Jilani Rezaigui, mit dem zusammen Francis heimlich fotografiert worden war, galt als die Hauptzielperson der Interpol-Sonderkommission Mraksch! Seine Rolle bei den beiden Raubüberfällen war noch nicht geklärt. Offen war ebenfalls, ob er einer der beiden Männer war, die in Ambulanzflügen aus Europa entkommen waren. Fest stand lediglich, dass sich mehrere Männer in ein und demselben Haus in Marrakesch aufhielten, und unter ihnen befand sich auch Jilani Rezaigni. Wie aber sollte Kleimann nun mit diesen brisanten Informationen über Francis umgehen? Francis war sein Freund, ein guter Freund. Der Raub der beiden Diamanten machte die Situation nicht einfacher. Ständig geschahen eigentümliche Dinge. So konnte er sich zum Beispiel nicht erklären, warum sich ein Staatssekretär aus dem Bayrischen Innenministerium über das BKA ständig nach dem aktuellen Ermittlungsstand erkundigte. Was hatte dieser Staatssekretär mit der Sache zu tun? Erkenntnisse über ihn lagen Kleimann nicht vor. Über das Internet hatte er lediglich herausgefunden, dass der Beamte mit Freiherr von Hohenstein in München Jura studiert hatte. Die beiden kannten sich also. Dennoch, Kleimann wurde aus diesem großen Interesse an der Soko Mraksch nicht schlau. Wahrscheinlich ist das wieder einmal so eine Gefälligkeitsklamotte, dachte er sich.
Bernhard Kleimann kehrte in Gedanken zurück zu seinem alten Freund und seinen merkwürdigen Verabredungen. Was, so schoss es ihm durch den Kopf, würde passieren, wenn er den Leiter der Soko Mraksch über diese dubiose Sache mit Francis Roundell informieren würde? Er hatte nicht vor, Francis Ärger zu bereiten, aber die Sonderkommission zur Klärung der Raubüberfälle von Bayern und Florenz war mit Topleuten und Kriminalbeamten aus vielen Staaten besetzt. Darunter befanden sich auch Marokkaner. Sie waren es gewesen, die auf die Bezeichnung für die Soko gekommen waren. Denn »Mraksch« hieß auf Arabisch »Stadt«. Und in Marokko gab es eine Stadt, die ihren heutigen Namen davon ableitete – Marrakesch! Genau dort hielt sich jetzt dieser Jilani Rezaigui auf. Zufall?
»Die Frage ist letztendlich«, murmelte Bernhard Kleimann an diesem Dezemberabend in Lyon vor sich hin und entschied, seine Karriere nicht für einen alten Freund zu riskieren, »… die Frage ist, wo Francis Roundell jetzt steckt!«
»Viktoria … grüß dich! Ich bin’s!« Marie-Claire de Vries war froh, ihre Berliner Kollegin noch so spät am Abend telefonisch zu erreichen. »Du, ich habe im Hotel Esplanade meinen Schminkkoffer stehen lassen. Könntest du dich bitte darum kümmern und ihn mir, wenn ihr ihn gefunden habt, per Post schicken?«
Genüsslich streckte sich Marie-Claire auf ihrem Bett aus. Sie fühlte sich pudelwohl. Schon die letzte Nacht hatte sie ausgezeichnet geschlafen, gemütlich gefrühstückt und zum ersten Mal seit langem wieder Zeit gehabt, all ihre Gedanken und die neuesten Erkenntnisse zu ordnen. Längst hatten sich ihr E-Mail-Postfach und der Briefkasten mit Informationen und Dokumenten von der Sicherheitsabteilung in London, von Universitätsbüchereien und Antiquariaten gefüllt. Sie brauchte dringend Zeit, das Puzzle um den Florentiner zusammenzusetzen. Morgen würde sie für Francis Roundell einen Zwischenbericht erstellen. Jetzt, nach dem Abendessen und einem herrlichen Bad, wollte sie nur noch einige Telefonate erledigen. Es wunderte sie nicht, dass sie ihre Schminkutensilien in Berlin vergessen hatte. Das nächtliche Gespräch mit Sanjay war bis in die frühen Morgenstunden gegangen. Beinahe hätte sie sogar ihren Rückflug verschlafen. Sie hatte nicht einmal die Zeit gehabt, sich zu schminken, sie war vielmehr in großer Eile zum Flughafen gefahren. Ihre Kollegin Viktoria, die gern plauderte und für die der Job bei Christie’s ein wahrer Segen war, plapperte am anderen Ende des Telefons wie ein Wasserfall. Als sie den Namen ihres Sicherheitschefs beiläufig erwähnte, kam Marie-Claire plötzlich ein Gedanke.
»Sag mal, Vicki, wer hat eigentlich diese beiden Inder, die Brüder Kasliwal, auf die Einladungsliste für diesen Abend gesetzt? Das sind ja keine Berliner oder Hamburger Kunden, meines Wissens sind sie in der Regel auf den Auktionen in London und in Genf anzutreffen.«
Neugierig lauschte Marie-Claire den Worten ihrer Kollegin. Abrupt richtete sie sich auf. Jede Antwort hatte sie erwartet, nur nicht diese!
»Bist du sicher?«, unterbrach sie Viktoria. »Francis Roundell? Das ist aber sehr ungewöhnlich. Die Einladungen werden doch von der Verkaufs- oder Marketingabteilung rausgeschickt. Francis hat überhaupt nichts damit zu tun …«