Gespannt hörte sie ihrer Kollegin zu. So wohlig müde sie nach dem heißen Bad gewesen war, so hellwach war sie jetzt. Nach zwei, drei weiteren Fragen an Viktoria legte sie den Hörer auf, holte sich einen Cognac, zündete sich völlig in Gedanken eine Zigarette falsch herum an, überlegte – und wählte dann die Handynummer von Francis Roundell. Sie wusste, dass er Wert darauf legte, rund um die Uhr erreichbar zu sein. Und das war er eigentlich schon immer. Von seinen persönlichen Lebensumständen wusste sie nichts. Er erzählte nie freiwillig von sich. Das war ihr vorher nie aufgefallen. Eigentlich kannte sie ihn kaum. Genau in dem Moment meldete er sich am anderen Ende der Leitung. Er klang hellwach, obwohl es spät in der Nacht war.
»Hallo, Francis! Tut mir Leid, dass ich Sie noch so spät störe, aber ich war den ganzen Tag über so fix und fertig, dass ich es einfach nicht früher geschafft habe. Ich wollte Sie nur telefonisch vorab über den derzeitigen Stand meiner Recherchen informieren. Einen ausführlichen Bericht bekommen Sie dann morgen per E-Mail.«
Marie-Claire bemühte sich, ruhig zu wirken, aber eigentlich war sie sehr nervös. Da war es wieder, dieses untrügliche Gefühl, ihre Intuition, die ihr schon so oft im Leben geholfen hatte.
Sie berichtete ihm, dass es ihr gelungen war, Kontakt zu Gregor von Freysing aufzunehmen. Sie erzählte von ihrer Lektüre diverser Bücher, den höchst interessanten Aspekten, die sie dem Buch Vitrine XIII entnommen hatte und die sie nun nachzurecherchieren gedenke. Schließlich stellte sie die Frage, die sie am meisten beschäftigte.
»Bei meinem Vortrag in Berlin waren zwei Inder anwesend, ein Sanjay Kasliwal und sein Bruder Pappu, beides Kunden von Christie’s und renommierte Schmuckhändler aus Jaipur. Ich habe mit ihnen sehr aufschlussreiche und interessante Gespräche geführt, wobei ich mich gefragt habe, wie diese beiden Männer eigentlich auf die Einladungsliste gekommen sind. Wissen Sie das, Francis?«
Nervös nippte Marie-Claire an dem Cognac und zog hektisch an der Zigarette. Francis’ Antwort kam prompt. Obwohl sie ein wenig damit gerechnet hatte, war sie doch so überrascht, dass ihr das Glas aus der Hand rutschte und der Cognac sich über ihren Bauch ergoss.
»Ach so, die Marketingabteilung aus London … ja, klar doch, die hatten erfahren, dass die beiden in Berlin sind … ich verstehe, ja, hätte ich mir auch denken können.«
Zehn Minuten dauerte das Telefonat mit Francis Roundell. Es kam ihr unendlich lange vor. Kaum, dass sie den Hörer aufgelegt hatte, schenkte sie sich einen weiteren Cognac ein. Wieder griff sie zu einer Zigarette. Sie ging unruhig im Zimmer auf und ab, blieb am Fenster stehen, schaute hinunter auf den Donaukanal und dachte nach. Warum hatte Francis sie angelogen? Warum hatte er nicht gesagt, dass er bei der PR-Abteilung in London darauf bestanden hatte, dass diese beiden Männer aus Jaipur unbedingt eingeladen wurden? Marie-Claire hatte genau das von Viktoria erfahren. Die Kollegen der PR-Abteilung hatten Viktoria extra telefonisch davon in Kenntnis gesetzt und dabei keinen Hehl aus ihrer Überraschung gemacht, dass der Sicherheitschef persönlich sich um eine Einladungsliste kümmerte. Niemand im Hause Christie’s hatte davon gewusst, dass die Brüder Kasliwal überhaupt in Europa waren! Warum auch, dachte Marie-Claire, der eine war gekommen, um Polofreunde in Hamburg zu besuchen und mit ihnen dann in St. Moritz auf dem gefrorenen See Winterpolo zu spielen. Und der andere, Sanjay, war auch nicht in Europa unterwegs, um an Auktionen teilzunehmen. Aber warum, zum Teufel, hatte Francis ihr die Unwahrheit gesagt und die beiden Männer nach Berlin einladen lassen? Eine weitere Frage drängte sich Marie-Claire auf, die sie selbst betraf. Seit Berlin gab es eine Sache, die sie permanent beschäftigte, und dazu hatte sei Francis eigentlich befragen wollen: zu dem Mann in der Bar. Dieser Mann in Harry’s New York Bar ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Dieser Krückstock auf seinem Schoß! Kein Mensch lässt seinen Krückstock stundenlang quer über seinem Schoß liegen und bewegt sich gleichzeitig nicht einmal einen Millimeter! Es war geradezu unnatürlich, wie starr dieser Mann dort, zwei Meter von ihnen entfernt, gesessen hatte. Alleine. Mit einem Krückstock ohne Gummipfropfen unten dran. Aber ein Loch hatte dieser Stock am unteren Ende gehabt, ein Loch, in das ein Metallteil eingearbeitet gewesen war. Danach hatte sie Francis Roundell eigentlich fragen wollen, hatte wissen wollen, ob es technisch möglich sei, in einem solchen Krückstock ein Mikrofon, ein Richtmikrofon einzubauen. Eines, das man unerkannt und perfekt auf die Teilnehmer eines Gesprächs am Nebentisch richten konnte. Seine Lüge hatte Marie-Claire von ihrer Frage abgehalten.
Marie-Claire war fassungslos und zugleich verwirrt. Ihr Misstrauen gegen Francis Roundell, den Sicherheitschef von Christie’s und ihren Auftraggeber, hatte sich als richtig erwiesen. Wem konnte sie jetzt noch vertrauen? Doch vor allem fragte sie sich, was diese Lüge zu bedeuten hatte. Sie blätterte lustlos in ihren Unterlagen. Ein Merkzettel fiel heraus. Es war eine Notiz, die sie sich am Berliner Flughafen gemacht hatte. Einen Moment lang überlegte sie, dann nahm sie das Handy und tippte eine SMS. »Freue mich auf den Wörthersee! Wann, wo? Bitte Rückruf morgen Vormittag. Gruß, Marie-Claire.«
12. Kapitel
Am Wörthersee regnete es in Strömen. Nebelschwaden zogen, getrieben von einem starken Südwind, über die Wälder an den Hängen bei Mariawörth. Die barocke Kapelle auf dem Hügel vor dem kleinen Ort war kaum zu erkennen. Dunkle Regenwolken hingen über den Berggipfeln um den See herum.
Marie-Claire war beeindruckt. Gregors Haus lag an einem bewaldeten Hang einige hundert Meter oberhalb von Mariawörth. Der Blick hinab auf den mittleren Teil der drei miteinander verbundenen, mit Inseln und Halbinseln durchsetzten Seen war grandios. In der einbrechenden Dunkelheit konnte sie die romantisch im Wald versteckte Villa nur schemenhaft erkennen. Es war ein idyllisches Anwesen, dominiert von einer dreigeschossigen Fachwerkvilla mit schiefergedeckten Türmchen und Erkern und einem Park, so groß wie ein Fußballfeld. Uralte Bäume säumten die Zufahrt. Kein Namensschild oder irgendein anderer Hinweis verriet, wem diese herrschaftliche Villa gehörte. Sie war sehr lange nicht mehr am Wörthersee gewesen. Mit ihm verband sie viele Erinnerungen. Als Kind hatte ein Sommeraufenthalt am See zu den alljährlichen Pflichtveranstaltung ihrer Eltern gehört. Mal waren es Seminare, zu denen ihr Vater geladen worden war, mal Einladungen zu rauschenden Festen der hier etablierten High Society oder Besuche bei Verwandten in Klagenfurt, die sie bisher geführt hatten. Für Marie-Claire waren es meist sehr langweilige Tage gewesen. Wer in Osterreich was auf sich hielt, hatte hier am Wörthersee eine Villa. Die Reichen lockten die Massen an wie Speck die Mäuse. Die Zauberformel der Gegenwart hieß Event-Tourismus. Fernsehsendungen wie Das Schloss am Wörthersee kreierten einen lärmenden Bustourismus. Heerscharen von Gaffern und Hunderttausende Kaffeefahrtenbesucher eilten seither an die Ufer des Sees. In Pörtschach prägten längst grauenhafte Betonsilohotels, Souvenir- und Würstchenbuden die einst so romantische Uferpromenade. Die Grundstückspreise waren in astronomische Höhen geschnellt. Von einem ihrer Freunde wusste sie, dass eine der kaum mehr erhältlichen Lizenzen für ein Motorboot auf dem See jetzt rund siebzigtausend Euro im Jahr kostete. Es gab genug Leute, die willens und in der Lage waren, diese horrende Summe zu bezahlen.
Mit den seit einigen Jahren stattfindenden Beach-Volleyball-Weltmeisterschaften am Strandbad in Klagenfurt pilgerten nun allerdings auch jugendliche Partyjünger und Sportfreaks nach Kirnten. Die da einst dieses landschaftliche Juwel knapp vier Stunden südlich von Wien als Deluxe-Wochenend- und Sommerrefugium auserkoren hatten, stöhnten unter dem Szenen-Hype des Jungvolkes, das in der Diskothek »Fabrik« mit der Fête Blanche das Party-Highlight des Sommers feierte, während das selbst ernannte Establishment am See mit dem Weißen Fest auf der Moosburg eine dekadente Variante dagegensetzte. Der Dresscode war für alle gleich: Es musste ein weißes Outfit sein.