»Guten Morgen«, versuchte sie sanftmütig zu klingen. »Tut mir Leid, was heute Nacht passiert ist. Ich kann einfach nicht abschalten! Seit Wochen laufen mein Kopf und auch mein Körper auf Hochtouren. Rien ne vas plus! Ich bin urlaubsreif. Oder ich brauche einen Psychiater!«
»Ist doch kein Problem«, entgegnete er ruhig. »Ich kenne das. Sehr gut sogar …«
Sie hörte den Unterton, die Enttäuschung in seinen Worten. Oder war es Misstrauen? Seine Hand lag noch immer auf ihrem Rücken. Sie hoffte, dass er sie nicht streicheln würde. Trotzdem strengte sie sich an, nett zu sein. In Wirklichkeit hatte sie nur einen einzigen Gedanken: raus aus diesem Bett!
»Ich habe ein riesiges Verlangen nach einer Tasse Kaffee und nach einem schönen, gemütlichen Frühstück«, belog sie ihn und auch sich und räkelte sich vermeintlich wohlig als Zeichen dafür, aufstehen zu wollen. Er deutete ihre Körpersprache richtig.
»Ich habe gestern Abend gesehen, dass kein Kaffee im Haus ist, aber das ist kein Problem. Ich fahre schnell nach Velden, da ist ein Café, das schon morgens geöffnet hat. Dauert aber sicherlich eine halbe Stunde, bis ich zurück bin. Wo das Bad ist, weißt du ja.«
Eine Viertelstunde später wusste Marie-Claire, warum sie sich heute Nacht, nur Bruchteile von Sekunden vor seinem Versuch, mit ihr zu schlafen, anders entschieden hatte. Ja, ihre Intuition hatte sie wieder einmal vor einer falschen Entscheidung bewahrt!
Nach einer schnellen Dusche war sie vom Gästetrakt wieder zurück in den Salon gegangen, hatte sich erst im Kaminzimmer und dann in der angegliederten Bibliothek umgeschaut. Das Haus selbst war riesig und wirkte kalt und unpersönlich. Es hatte keinerlei Charme. Die Bibliothek war so groß wie ihre gesamte Wohnung in Wien. Prächtige Schweinslederbände standen in einer Vitrine. Ein Hondius-Atlas aus dem 17. Jahrhundert lag daneben. Die vielen, teils mehrere hundert Jahre alten katholischen Lexika in der Vitrine zogen sie an. Dann fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Sie wollte nicht wirklich in seinen Unterlagen stöbern. Sie konnte jedoch nicht widerstehen, als sie in einer Ablage neben der Couch ein Manuskript mit einem wunderschönen Wappen sah, dessen heraldische Details sie weder kannte noch zu deuten wusste. Hastig blätterte sie in dem Manuskript, das offensichtlich die Vorlage einer Rede war, die er gehalten hatte oder noch zu halten gedachte. Es war eine Laudatio für eine Organisation, deren Namen sie noch nie gehört hatte, die aber allem Anschein nach in London ansässig war und zu der er sich laut Titel Sei’s Panier in Treue ergeben fühlte. Verwundert las sie die ersten Seiten quer. Die Diktion ließ sie aufmerken. Da war die Rede von Geschwüren am Leib der Kirche und von London als einer so wenig katholischen, hedonistischen Stadt. Irritiert blätterte sie weiter, überflog insbesondere die mit Farbstift markierten Passagen: »… denken wir nur an diesen Kult des Hässlichen, Bösen, Abstoßenden, der heute in so vielen Subkulturen gepflegt wird – bis hin zu so genannten Kunstwerken, wo man versucht, uns Sudeleien aus Körpersäften und Fäkalien als Malerei zu verkaufen … setzen wir dem Gott entgegen! Gott, den Schöpfer des Guten, des Wahren und des Schönen!« Verwirrt schaute sie nochmals auf das Deckblatt. Ja, das hatte offensichtlich Gregor geschrieben – unglaublich! Ihre Augen blieben an Schlagwörtern hängen, die sie bislang noch nie gelesen hatte: »Realpräsenz Jesu Christi in den gewandelten Gestalten des Altarsakraments … der allein selig machende Charakter der katholischen Kirche.« Was sollte das heißen? Sie schüttelte den Kopf. Weiter stand da: »… es wäre scheinheilig, sich katholisch zu nennen und nicht gleichzeitig gegen die höllischen Pervertierungen zu kämpfen und uns vor dem fanatischen Liberalismus zu hüten …«
Marie-Claire konnte nicht glauben, dass diese Termini aus dem Mund jenes Mannes stammten, der heute Nacht neben ihr im Bett gelegen hatte. War das Gregor? War das sein zweites, sein wirkliches Ich? War er das, was sich in diesem Text »milites christiani« – christliche Soldaten nannte? Was wollte er, was wollten diese Leute, für die er diese Rede hielt? Sie las die markierte Zeile nochmals: »Die Demokratie hat wieder gesiegt! Nein, lautet unsere Antwort!«
Marie-Claire zuckte zusammen. Sie hatte ein Geräusch gehört. Kam Gregor bereits zurück? Nein, sie hatte sich getäuscht. Mit zitternden Händen blätterte sie vor, zurück, vor, schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Diese Rede war der verbale Rundumschlag eines ultrakonservativen, in gewisser Hinsicht sogar antidemokratischen Menschen! Kein Zweifeclass="underline" Hier schrieb ein christlicher Fanatiker. Und ein Neo-Monarchist!
»Nicht zu fassen, so ein abstruses Zeug«, murmelte sie vor sich hin. Schließlich fand sie eine Passage, aus der sie glaubte entnehmen zu können, um was es bei diesem Vortrag eigentlich ging: »Der Staat, in dem sich diese Idee verkörpert, ist die alte habsburgische Doppelmonarchie … Und wie das Reich Gottes sein himmlisches Jerusalem hat, hat das Heilige Römische Reich sein irdisches Jerusalem. Das ist Wien … die dortige Karlskirche ist der neue Tempel Salomons und Wien das kaiserliche Jerusalem … die Idee einer europäischen Eidgenossenschaft – Österreich als deren Zentrum … denn Österreich ist zum irdischen Exil des in Transzendenz entrückten, verklärten Reichs geworden.«
»Er ist verrückt!«, presste Marie-Claire entsetzt hervor. Das war das extremistisch-monarchistische Gedankengut eines Ewiggestrigen, absurde Fantasien von einer »Österreich-Idee«, von einem Orbis Europaeus Christianus. Marie-Claire konnte ihre Blicke nicht von dem Manuskript wenden. Sie war völlig außer sich. Gregor – und mit ihm diese Leute – waren irre Fanatiker! Was waren das für Menschen, die solch wahnwitzige Ideen hatten? Ihr wurde schlecht. Plötzlich erinnerte sie sich seines seltsamen Gesichtsausdruckes, als sie am vorherigen Abend gemeint hatte, dass sie ihre Position als Frau in einer Beziehung nicht als Kinder hütende Mutter, sondern als berufstätige, gleichberechtigte Partnerin definiere. Er hatte recht verdutzt dreingeschaut, aber nichts gesagt. Jetzt wusste sie, warum. Jetzt ahnte sie, wer Gregor Friedrich Albert von Freysing wirklich war, was sich hinter seiner Fassade aus Reichtum, Charme und Koketterie wirklich verbarg. Er war ein Machtmensch! Er war wie ihr Vater: machtbesessen, skrupellos und gefühlskalt. Ihr Vater konnte ebenfalls wie ein galanter, feinfühliger, weltoffener und liberaler Mensch wirken. Doch das tat er nur, wenn er es wollte und wenn es ihm etwas nutzte. Gänsehaut lief ihr über den Rücken und breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Noch vor wenigen Stunden hatte dieser Mann sie ausgezogen, hatte ihren Körper berührt, sie liebkost. Beinahe hätte sie mit ihm geschlafen! Er hatte sie vorgeführt wie ein kleines Mädchen! Er hatte mit ihr gespielt – und ihr in kürzester Zeit entlockt, worin ihre wahre Aufgabe bei Christie’s bestand. »Verfluchter Scheißkerl!«, artikulierte sie ihre tiefe Enttäuschung und Wut.
Heftig atmend legte sie das Manuskript zur Seite. Sie wollte nur noch weg, weg vom Wörthersee, weg von Gregor. Nein, sie brauchte nicht weiterzulesen. Oder doch? Schnell las sie die letzten drei Seiten der Rede nach auffälligen Passagen durch. Sie fand, was sie hoffte zu finden! »Burgund« stand dort in großen Lettern, gedacht als Stichwort für das Resümee der Rede.
»Nein …!«, entfuhr es ihr so laut, dass sie ängstlich aufschaute, ob sie wirklich noch alleine in der Bibliothek sei. Dann las sie flüsternd vor sich hin, was Gregor geschrieben hatte: »… Damit ist ein wichtiges Stichwort gefallen: Burgund! Aus Burgund kommt der Orden vom Goldenen Vlies. Seit einigen Jahren ist die Funktion des obersten Bandinhabers unserer ehrenwerten Bruderschaft untrennbar mit der des Führers und Souveräns des Ordens vom Goldenen Vlies verbunden! Die Idee, die dem Orden zugrunde liegt, war die Schaffung einer internationalen Ritterschaft, die dem Ideal des Chevalier sans peur et sans reproche – des Ritters ohne Furcht und Tadel entspricht … Feuerstrahl und Feuerstein versinnbildlichen den Wahlspruch des Ordens: Ante ferii quam flamma micet – man muss ihn schlagen, ehe die Flamme lodert! Welch edles Bild des Rittertums! Lassen wir unser Feuer lodern! In diesem Sinne sage ich mit den Worten Karls des Kühnen: Je lai empris – ich habe es gewagt!«