Als sie gegen zehn Uhr ihren Computer ausschaltete, fiel ihr Blick auf einen Stapel Dokumente auf ihrem Schreibtisch. Hatte sie den Umschlag mit der Kopie der handschriftlichen Aufzeichnungen von Alphonse de Sondheimer gestern Morgen nicht verschlossen? Gestern hatte sie noch nicht gewusst, dass Abdel Rahman in ihre Wohnung kommen würde. Aber er war da gewesen. Die ganze Nacht. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wann er aufgestanden und aus der Wohnung gegangen war. Plötzlich bekam Marie-Claire de Vries Angst. Auf dem Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer lag nicht nur das Manuskript zum Buch über die Vitrine XIII. Da lagen auch die Bücher über Marie-Antoinette, über die Medici und über Karl den Kühnen und die Ritter vom Goldenen Vlies. War Abdel in ihrem Arbeitszimmer gewesen? Hatte er …?
»Merde, Merde!«, fluchte sie. »Der Typ hat dir den Verstand aus dem Hirn ge …! Der Scheißkerl hat schon wieder in deinen Unterlagen geschnüffelt. Was, verdammt noch mal, will er?«
17. Kapitel
Château de Vaumarcus war in dichten Nebel gehüllt. Vom Lac de Neuchâtel konnte Marie-Claire de Vries nur erahnen, dass es rechts von ihr lag. Sie war müde und mürrisch. Ihre Freundin Christiane saß auf dem Beifahrersitz und starrte angespannt auf die Fahrbahn, von der mit Einbruch der Dunkelheit kaum mehr etwas zu sehen war. Eine unwirtliche Ruhe umgab sie.
»Ich habe die Nase gestrichen voll!«, murrte Marie-Claire.
»Für die zweihundert Kilometer von Zürich bis hierher haben wir jetzt fast fünf Stunden gebraucht. Von Bern habe ich außer einem Autobahnschild nichts gesehen. Dass es hier Berge gibt, weiß ich nur aus Büchern. Und außerdem habe ich unglaublichen Hunger.«
Christiane Schachert blickte missmutig in die in Nebel gehüllte Umgebung.
»Und mir ist schlecht! Ich hasse es, im Nebel Auto zu fahren. Dieses verfluchte Schloss muss doch jetzt irgendwann kommen. Eben sind wir an Grandson vorbeigefahren. Laut Karte sind es bis zur Schlossauffahrt dann noch drei Kilometer. Ich hoffe nur, dass wir die nächsten Tage nicht so ein mieses Wetter haben. Dann kündige ich dir die Freundschaft.«
»Und ich werde nie wieder ad hoc Kurzurlaub auf einem Schloss in der Schweiz machen – jedenfalls nicht im Dezember!«
Marie-Claire meinte das ernst. Längst bereute sie, all ihre Bücher und Unterlagen über den Florentiner eingepackt und nach Zürich geflogen zu sein. Aber diese verwirrend-schöne Nacht mit Abdel Rahman hatte sie völlig aufgelöst zurückgelassen. Das Einzige, zu dem sie noch fähig gewesen war, war zu fliehen. Ihre Entscheidung, nach Grandson zu fliegen, war innerhalb weniger Stunden gefallen. Sie war nur froh, dass Chrissie ohne lange zu überlegen bereit gewesen war mitzukommen. Doch die Reise hin zu jenem Ort in der Schweiz, an dem der Florentiner, aber auch der Kleine und der Große Sancy zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes offiziell genannt worden waren, hatte sich schnell als schwierig herausgestellt. Der Abflug von Wien hatte sich um eine Stunde verspätet. In Zürich musste das Flugzeug ewig wegen Nebels Warteschleifen fliegen. Und während der gesamten Fahrt zum Lac de Neuchâtel hatte sich das Wetter und damit auch ihrer beider Stimmung immer mehr verschlechtert. Seit sieben Stunden war sie nun schon unterwegs. Ihre anfängliche euphorische Stimmung war tiefer Nachdenklichkeit gewichen. Vor mehr als fünfhundert Jahren hatten hier um den See herum in Grandson, Murten und Nancy Schlachten stattgefunden, die die politische Landkarte Europas maßgeblich verändert hatten. Am 2. März 1476 waren die Heere des bis dahin als unschlagbar geltenden Burgunderherzogs Karls des Kühnen von Schweizer Truppen hier in Grandson erstmals besiegt worden. Und hier war jener Diamant erstmals aufgetaucht, der seit einiger Zeit ihr Leben völlig auf den Kopf stellte.
Der Florentiner, darüber war sich Marie-Claire im Klaren, hatte ihr Leben verändert. Dass dem Edelstein seit jeher angedichtet wurde, von einem Fluch belegt zu sein, hatte sie selbst noch vor wenigen Wochen als eine jener Legenden abgetan, deren es einige in Verbindung mit berühmten Schmuckstücken und Edelsteinen gab. Aber längst nagten Zweifel an ihrer beruflich bedingten, sehr pragmatischen und rationalen Einstellung zu solchen Legenden. Wann immer sie in letzter Zeit in all der Hektik darüber nachgedacht hatte, ob an solchen mystischen Überlieferungen nicht doch etwas Wahres dran sei, waren ihr die Worte von Sanjay Kasliwal eingefallen, der Diamanten mehr oder minder eine Seele zugestand. Früher hätte sie so etwas nur belächelt, aber in letzter Zeit waren Dinge geschehen, die sie nur schwerlich mit Zufall abtun konnte. Der seit Jahrhunderten zitierte »Fluch des Florentiners« schien auch sie erfasst zu haben. Nicht auf tragische oder tödliche Weise. Nicht so wie bei Marie-Antoinette, der Königin von Frankreich, und bei Kaiserin Sisi von Österreich. Oder wie bei Karl dem Kühnen, hier in Grandson. Sie alle hatten den Florentiner besessen und waren auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommen. Die ruhmreichen Herrschergeschlechter der Medici und Habsburgs, die ebenfalls den Florentiner besessen hatten, waren dramatisch schnell untergegangen. Kaiser Napoleon, einst Besitzer des Florentiners, starb in Verbannung auf St. Helena. Der letzte österreichische Kaiser, der auch der letzte Besitzer des Florentiners gewesen war, starb in Verbannung auf Madeira. Wer sollte angesichts solch tragischer Geschehnisse nicht an einen Fluch glauben?
Was immer auch in den letzten Wochen in ihrem Leben geschehen war, barg Dimensionen in sich, die sie ängstigten. Alles war anders geworden. Nichts schien mehr Bestand zu haben. Magische Kräfte schienen sie erfasst zu haben. Nicht sie bestimmte ihr Leben, nein, die Impulse kamen von außen. Am Tag und, wie bei Abdel, auch in der Nacht. Rational war das nicht mehr erklärbar, aber all das dem Fluch des Florentiners zuzuschreiben widerstrebte ihrer Art des Denkens. Wissenschaftlich betrachtet waren solche Überlieferungen zum Unheilscharakter eines Diamanten zwar absurd, Blödsinn. Aber …
»Hey, du! Marie-Claire.« Die Worte ihrer Freundin Christiane rissen sie aus ihrer Versunkenheit. »Hoffentlich ist das Schloss genauso romantisch, wie es auf den Bildern aussieht. Ich habe nämlich schon immer davon geträumt, in einem von Nebel verhüllten, von gruseligen Untieren und lüsternen Schweizer Landsknechten belagerten Schloss zusammen mit einer Frau in einem Himmelbett zu liegen.«
Beide Frauen schauten sich kurz an und lachten dann lauthals los. Sie lachten so heftig, dass Marie-Claire am rechten Fahrbahnrand anhalten musste.
»Weißt du was, Marie-Claire«, presste Christiane hervor, »wir eliminieren für die nächsten Tage das Thema Männer ganz einfach aus unseren Gedanken! Ein Hoch auf das Leben! Zwei der tollsten Frauen Wiens in einem Himmelbett in einem Schloss an einem See, der leider nicht zu sehen ist. Genau! So machen wir es: lesen, essen, trinken – schlafen. Ich hoffe nur, dass dieses Himmelbett breit genug ist.«
Kurz darauf erreichten sie die links der Straße auf einer Anhöhe unterhalb der Rehberge gelegene Burg. Die drei Zinnen der einstigen Festungsanlage ragten in den hier oben auf den Hügeln sternenklaren Nachthimmel. Madame Thalmann, über die Marie-Claire die Reservierung des einzigen in diesem Privatschloss zu mietenden Zimmers arrangiert hatte, begrüßte sie herzlich und führte sie durch die kalt und düster wirkenden Gemäuer hinauf zu dem Zimmer. Ein kleines Schild an der Tür wies darauf hin, dass hier in dem gleichnamigen Zimmer einst Charles le Téméraire, eine der schillerndsten Persönlichkeiten des 15. Jahrhunderts, residiert hatte. Chrissie verdrehte die Augen und flüsterte: »Buuuh, hier gibt es bestimmt Gespenster – männliche Gespenster.«
Das Bett, in dem der Burgunderherzog und Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies, Karl der Kühne, im März des Jahres 1476 genächtigt hatte, verschlug ihnen beiden die Sprache. Ein purpurfarbener Baldachin überspannte, von vier Holzpfosten getragen, das aus Eichenholz gezimmerte Hochbett, das schräg gegenüber eines traumhaft schönen, mit gelblichem Sandstein eingefassten, fast mannshohen Kamins stand. Die Gastgeberin hatte bereits ein Feuer gemacht. Der Geruch von brennendem Buchenholz durchzog den großen, mit Holzparkett ausgelegten Raum, in dessen Mitte ein antiker Holztisch mit sechs Stühlen stand. Neben dem mit rotem Samt bezogenen Sessel am Erkerfenster stand eine Ritterrüstung. Im Zwielicht des Feuers und der spärlichen Beleuchtung zweier Wandlampen waren in Deckenhöhe mittelalterliche Wandmalereien zu erkennen. Eine alte, handkolorierte Landkarte des einstigen burgundischen Reiches hing neben der Eingangstür. Marie-Claire war fasziniert. Die wohlige Wärme des Feuers und das gespenstisch-romantische Ambiente dieses Raums ließen ihr Gänsehaut über den Rücken laufen.