»Ist das nicht toll, Chrissie? Wunderschön! Wie im Mittelalter! Ein Bett wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht – in einem verwunschenen Schloss! Genau der richtige Ort, um sich in alte Bücher über kühne Ritter zu vergraben – und von mystischen Prinzen und legendären Diamanten aus dem Morgenland zu träumen! Es ist …«
Ihr Handy läutete. Wie elektrisiert schaute Marie-Claire fragend ihre Freundin an. Dann blickte sie auf die Armbanduhr. Es war fast zehn Uhr. Wer rief sie so spät am Abend noch an? Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht, aber es war eine Schweizer Vorwahl.
»Warum nimmst du das Gespräch nicht an?«, zischte Chrissie. Marie-Claire konnte die großen, fragenden Augen ihrer Freundin im Schein des Feuers sehen. Dann verstummte das Läuten des Handys. Marie-Claire stand noch immer wie angewurzelt neben dem Kamin. Nervös fingerte sie nach einer Zigarette und zündete sie zitternd an.
»Was ist denn los?« Chrissie sprach ungewöhnlich leise.
»Abdel …?«
»Nein, viel schlimmer!«, antwortete Marie-Claire. »Es war mein personifiziertes Karma! Ich bin mir sicher. Ich spüre, dass er es war. Und ich frage mich, ob es solche Zufälle geben kann, Chrissie! Hier, in diesem Raum, schlief vor mehr als fünfhundert Jahren jener legendäre Burgunderherzog, der vermutlich als erster Europäer den Florentiner besessen hat. Den Kleinen und den Großen Sancy auch! Er trug den Florentiner nicht seines unvorstellbaren Wertes wegen, sondern im Glauben, dass ein solcher Edelstein seinen Besitzer unschlagbar und unsterblich machen würde. Denn die Bezeichnung Diamant, das wusste Karl der Kühne, kommt aus dem Griechischen adamas – der Unbezwingbare! Aber der Stein brachte ihm, dem bis dahin unschlagbaren Feldherrn, dem Herausforderer des französischen Kaisers und des deutschen Kaisers Friedrich III., kein Glück! Die mystische Macht der göttlichen drei Brüder, wie er den Kleinen Sancy, den Großen Sancy und den späteren Florentiner nannte, ließ seine Macht nach den drei Schlachten von Grandson, Murten und Nancy binnen weniger Monate zerbrechen. Die Legende sagt, dass er die drei Diamanten hier unterhalb dieses Schlosses verlor – auf der Flucht vor Schweizer Heeren. Wenige Monate später gab es kein Burgund mehr. Er selbst war tot: von Schweizer Lanzen bei Nancy durchbohrt, sein im See eingefrorener Leichnam von Wölfen zerfleddert. Und kaum bin ich hier in diesem Raum, ruft er an.«
Christiane Schachert unterbrach ihre Freundin. »Hörst du jetzt auf, so mystischen Quatsch zu reden! Kein Auge mache ich hier in diesem Bett zu, wenn du so redest. Sag mir lieber, wer da angerufen hat.«
»Das ist kein mystischer Quatsch, meine Liebe! Das ist Furcht erregender Ernst! Hier, in diesem Château de Vaumarcus, begann die Legende des Florentiner-Diamanten. Der Edelstein hieß damals noch nicht so. Aber der Fluch jenes Diamanten, hinter dem ich und offensichtlich auch andere nun her sind, begann genau hier in diesem Zimmer. Hier in diesem Zimmer lagen wahrscheinlich damals auch die beiden Sancy-Diamanten. Drei unvorstellbar wertvolle Diamanten – im Besitz eines Mannes, der zudem noch Souverän der Vlies-Ritter war! Alle drei Edelsteine sind jetzt verschwunden. Stattdessen sind nun gleich drei Männer in meinem Leben aufgetaucht. Alle interessieren sie sich für diese Diamanten. Keiner von ihnen sagt mir die Wahrheit, aber alle drei stellen mein Leben auf den Kopf. Mein Leben ist eine einzige Katastrophe. Das sind die Fakten, Chrissie! All das ist kein Zufall! Es ist eine Fügung, dass ich jetzt hier stehe. Es ist mein Karma, dass er jetzt anruft.«
»Wer denn, verflixt noch mal?« Christiane Schachert spürte, wie sie von der eigentümlichen Stimmung ihrer Freundin angesteckt wurde. Noch nie zuvor hatte sie Marie-Claire so erlebt. Erneut läutete das Handy der Freundin. Wie paralysiert nahm Marie-Claire das Telefon in die Hand. Sie blickte nicht auf das Display. Sie wusste, wer anrief. Ohne Chrissie anzuschauen flüsterte sie: »Das ist jener Mann, aus dessen Land der Große Sancy, der Kleine Sancy und der Florentiner geraubt wurden – vor ewigen Zeiten. Diese Diamanten gehörten seinem Volk. Deswegen ist er hier in Europa. Und glaub mir, Chrissie: Dass er genau jetzt anruft, ist göttliche Allmacht, Karma – Fügung. Es ist alles, aber kein Zufall!«
Hektisch schritt Marie-Claire auf das flackernde Feuer des Kamins zu. Ihr Schatten hob sich überdimensional gegen die holzgetäfelte Decke und das Bett mit dem roten Baldachin ab. Sie nahm den Anruf an.
»Good evening, Mister Kasliwal …, hallo Sanjay, wie geht es Ihnen?«
Marie-Claire telefonierte eine halbe Stunde mit Sanjay Kasliwal. Kaum hatte er sich gemeldet, hatte sich das vertraute Gefühl für ihn wieder eingestellt. Es kam ihr so vor, als kenne sie ihn seit ewigen Zeiten – aus einem früheren Leben. Dennoch konnte sie ihrer Freundin nicht erklären, was sie dazu bewogen hatte, den Inder nach Grandson einzuladen. Sanjay hatte aus Genf angerufen, wo er sich zusammen mit seinem Bruder aufhielt. Von dort wollten sie zusammen weiter nach St. Moritz reisen. Er hatte sie angerufen, weil er Marie-Claire zum Geburtstag gratulieren wollte. An jenem schönen Abend in Berlin hatte sie ihm aus irgendwelchen Gründen ihr Geburtsdatum genannt. Ihr Geburtstag war ein weiterer Grund dafür gewesen, dass sie sich so kurzfristig entschlossen hatte, nach Grandson zu fliegen. Seit einigen Jahren hasste sie ihren Geburtstag, denn er erinnerte sie daran, dass sie älter wurde. Deswegen hatte sie Chrissie gebeten, mit nach Grandson zu kommen. Mit der Frohnatur Christiane zu fliehen, schien ihr ein Ausweg zu sein. Sie hoffte, dort die frustrierenden Erlebnisse ihrer Ägyptenreise, das Zusammentreffen mit Gregor, die Nacht mit Abdel Rahman und die mehr als turbulenten Geschehnisse rund um den Florentiner für eine Weile vergessen zu können. Hier wollte sie sich ganz auf den Bericht für Francis Roundell konzentrieren. Konnte es dafür einen besseren Ort geben als Grandson?
Gegen Mitternacht, Chrissie und sie hatten vor dem flackernden Kaminfeuer im Zimmer Charles le Téméraire des Château de Vaumarcus schweigend eine Flasche Rotwein getrunken, unterbrach Marie-Claire die Stille.
»Frag mich nicht, warum ich das gemacht habe. Frag mich bitte nicht! Ich weiß, dass mein Leben derzeit sehr chaotisch ist. Aber ich muss auch zugeben, dass ich mich unglaublich wohl fühle und erleichtert bin, seit ich weiß, dass Sanjay kommt! Von Genf nach hier ist es mit dem Auto über Lausanne kaum mehr als eine Stunde Fahrt. Er wird übermorgen gegen Mittag hier sein. Und ich freue mich wie ein kleines Kind vor dem Weihnachtsbaum auf ihn. Bist du mir deswegen böse?«
Christiane Schachert hatte ein wenig das Verlangen zu heulen. So nahe hatte sie sich Marie-Claire schon lange nicht mehr gefühlt. Dieses Zimmer, die unglaubliche Ruhe hier auf dem Hügel über dem See, das Kaminfeuer und das wunderschöne Schweigen der letzten Stunde bewirkten seltsamerweise nicht Schwermut, vielmehr fühlte sie sich gelöst und befreit. Kichernd schaute sie ihrer Freundin in die Augen.
»Du bist süß! Ich könnte dich knuddeln. Ich fühle ganz genau, dass dieser Inder in deinem Leben eine große Rolle spielt – spielen wird. Ich habe nur ein einziges Problem damit.«
Marie-Claire schaute verwundert auf. »Was meinst du damit? Was für ein Problem?«