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»Nun ja, Süße: Fakt ist, dass es in diesem Schloss nur ein einziges Gästezimmer gibt. Und zwar dieses hier. Um uns herum ist, glaube ich, nur Wald. Kein Hotel! Du wirst mir die sehr pragmatische Frage verzeihen, aber schlafen wir beide ab übermorgen im Bett Karls des Kühnen zusammen mit einem Inder, mit einem Märchenprinzen aus dem Morgenland? Du rechts, ich links – er in der Mitte? Oder muss ich vor dem Kamin schlafen?«

Die Augen ihrer Freundin funkelten schelmisch. Sie starrten sich gegenseitig liebevoll an. Dann lachten sie los, laut und sehr glücklich.

Am nächsten Tag regnete und schneite es abwechselnd. Noch immer hüllte dichter Nebel den See und das Schloss ein. Das Wetter war so trist, das Kaminfeuer flackerte so romantisch und das Frühstück, das ihnen Madame Thalmann auf dem Zimmer servieren ließ, war so üppig, dass beide beschlossen, das Bett und das Zimmer nicht zu verlassen. Marie-Claire nahm das Manuskript über die Vitrine XIII aus ihrem Aktenkoffer und las im Bett. Chrissie dagegen saß im Sessel vor dem Feuer und stöberte in Unterlagen und Büchern über Marie-Antoinette, die Tochter des österreichischen Kaiserpaars und einstige Besitzerin des Florentiners. Um die Beziehungen mit Frankreich zu festigen, war sie im Alter von vierzehn Jahren mit dem französischen König Ludwig XVI. verheiratet worden. Als Hochzeitsgeschenk nahm die Braut auch eine prachtvolle Halskette mit nach Paris. Der große, gelbliche hundertsiebenunddreißigkarätige Edelstein, der die Kette zierte, sollte ihr kein Glück bringen. Der Fluch des Florentiners erfasste auch Marie-Antoinette. Am 16. Oktober des Jahres 1793 wurde sie in Paris wegen angeblichen Hochverrats auf dem Schafott hingerichtet.

Marie-Claire arbeitete sich durch das Manuskript über die Flucht des letzten österreichischen Kaiserehepaares in die Schweiz im Jahre 1919 durch. Die Memoiren des Schmuckhändlers Alphonse de Sondheimer, die auch einige Zeichnungen enthielten, wühlten sie auf.

»Irgendwo in diesem Manuskript muss etwas stehen, was das Verschwinden des Florentiners damals in Genf erklärt«, murmelte sie nach mehr als zwei Stunden des Lesens vor sich hin.

»Seit damals ist dieser Diamant verschwunden. Aber vieles spricht dafür, dass er irgendwo auf der Welt noch existiert. Francis Roundell lässt mich sicherlich kein Phantom suchen. Schließlich wittert er ein großes Geschäft für Christie’s. Gregor, Abdel – und letztendlich auch Sanjay glauben ebenfalls an die Existenz des Diamanten! Zumindest Gregor und Abdel scheinen zu glauben, dass in diesen Memoiren die Erklärung zu finden ist, wer den Stein damals erwarb – oder auch stahl! Weißt du, wenn du dir dieses Manuskript durchliest, dann wird eines klar: Dieser Sondheimer war ein Pedant! Der hat alles genau aufgeschrieben. Nur im Fall des Florentiners hat er das nicht gemacht – jedenfalls steht darüber nichts Genaues in dem Buch! Da gibt es vage Andeutungen, dass geplant wurde, ihn in zwei oder gar mehrere Teile zu zerschneiden. Eine handschriftliche Zeichnung für diesen Plan liegt diesen Memoiren auch bei. Übrigens steht auf dieser Zeichnung oben der Name ›Ostier‹ vermerkt. Irgendwo habe ich den Namen schon einmal gelesen, ich weiß nur nicht mehr, wo. Ich denke nicht, dass der Plan, den Diamanten zu teilen, durchgeführt wurde. Ich habe mit unseren Fachleuten gesprochen. Der berühmte Edelsteinexperte Jean Baptiste Tavernier hat den Florentiner für die Medici vermessen, geschätzt und dokumentiert. Damals hieß dieser Diamant noch ›der Toskaner‹ und war – übrigens zusammen mit den beiden Sancys – im Besitz von Maria de Medici. Daher wissen wir sehr genau, wie dieser in Form eines Brioletts mit neunfacher Anordnung der Facetten geschliffene Stein aussah. Weißt du, man kann einen Diamanten nicht einfach so in der Mitte spalten oder, wie es ab dem 17. Jahrhundert gemacht wurde, mittels eines feinen Eisendrahtes, der mit durch Öl gebundenem Diamantenpulver beschichtet war, zersägen. Jeder Diamant hat eine unverwechselbare innere Struktur, eine Wachstumsrichtung – und damit ein so genanntes inneres Feuer, das allerdings erst durch das perfekte Schleifen und das Polieren richtig zur Geltung kommt. Rohdiamanten sind, mit Verlaub gesagt, ziemlich unscheinbar. Jeder Diamant ist einzigartig! Wenn du ihn einfach zerschneidest, wird er fast wertlos. Besonders dann, wenn er schon wie der Florentiner geschliffen wurde. Aus den Aufzeichnungen dieses Tavernier wissen wir daher, dass der Florentiner, wenn überhaupt, nur in zwei Teile hätte zerschnitten werden können, um zwei neue, halbwegs wertvolle Edelsteine daraus zu fertigen. Daraus wären dann ungefähr ein Achtzigkaräter und ein Fünfzigkaräter geworden. Aber jedem Edelsteinliebhaber würde solch eine brachiale Tat Tränen in die Augen treiben.

Zudem liegt der Wert eines Edelsteins ja nicht nur im Materiellen. Damals in Genf schätzte man den Florentiner auf rund vier Millionen Schweizer Franken, was eine unglaubliche Summe war. Angeblich hat der österreichisch-ungarische Exkaiser Karl I. ihn ja dann für 1,2 Millionen über Sondheimer beliehen.

Nein, meine Liebe, dieser Florentiner wurde nicht zerstückelt! Glaube mir. Der wahre Wert dieses Steins ergibt sich für einen Edelsteinexperten aus seiner fantastischen Geschichte. Nur wenige Diamanten sind im Besitz so vieler edler, aristokratischer Häupter des Abendlandes gewesen. Genau das macht den Florentiner so unschätzbar wertvoll. Darin besteht ja auch meine jetzige Arbeit. Ich recherchiere die Geschichte dieses Edelsteins, damit, falls er jemals wieder auftaucht, seine Historie einwandfrei dokumentierbar ist – und damit sein Preis ins schier Unermessliche steigen kann. Nein, einen solchen Diamanten teilt man nicht einfach auf. Den gibt es noch! Die Frage ist nur: Wo? Im Buch steht darüber nichts. Aber vielleicht hier in diesem Manuskript? Und vielleicht ist es eine versteckte Nachricht.«

Chrissie schaute zu ihr hinüber. »Ist das Manuskript denn nicht identisch mit dem veröffentlichten Buch?«

»Nein, absolut nicht. Wenn ich davon ausgehe, dass das, was ich hier lese, wirklich die originalgetreue Abschrift des von Sondheimer verfassten Gedächtnisprotokolls ist, dann gibt es in vielen Passagen enorme Abweichungen zwischen dem Buch und diesem Manuskript.«

»Ach so, das ist gar nicht das Original?«, blickte Christiane Schachert ihre Freundin erstaunt an.

»Nein, es ist eine Abschrift. Und wie immer, wenn es um den Florentiner geht, ist das alles sehr verworren! Einer jener Leute, die Sondheimer bei der Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen halfen, war der Schriftsteller Max-Hermann Neiße. Er lebte damals in London. Als er 1941 starb, heiratete Sondheimer seine Witwe, die, so habe ich herausgefunden, diese Abschrift verfasst hat. Sie war meines Wissens Ausländerin, was die vielen Rechtschreibfehler in dem Manuskript erklärt. Soweit ich informiert bin, gab es eine handschriftliche Version, ein Original und eine Abschrift.«

»Und warum war dieses Buch eine so geheimnisvolle Sache?«

Christiane Schachert hatte ihr eigenes Buch zur Seite gelegt und schaute ihre Freundin erwartungsvoll an. Marie-Claire blätterte kurz in ihren Unterlagen.

»Da gab es sicherlich eine ganze Menge Gründe. Zum einen hat dieser Schmuckhändler, zumindest nach seinen eigenen Angaben, geradezu unvorstellbar wertvolle Schmuckstücke im, wie er vorgibt, persönlichen Auftrag des österreichischen Exkaisers und im Auftrag seines Sekretärs verschachert, was im Zweifelsfalle nichts anderes als gewerbsmäßige Hehlerei, also eine Straftat war. Denn die neue österreichische Regierung hatte behauptet, dass große Teile des vom Kaiser in die Schweiz verbrachten Schmuckes aus den Vitrinen XII und XIII der Wiener Schatzkammer nicht Privateigentum der Habsburger, sondern Staatseigentum waren. So gesehen hätte Alphonse de Sondheimer also Diebesgut verscherbelt. Zusammen mit dem Exkaiser! Und das ist der eine heikle Punkt. Du kannst dir sicher vorstellen, dass eine solche Behauptung die Nachfahren des Hauses Habsburg zu gerichtlichen Schritten veranlasst hätte. Also hat der Verlag beziehungsweise haben Verlag und der anonyme Herausgeber wichtige Passagen des Buches mit Kommentaren und Fußnoten relativiert und juristisch entschärft. Warte, ich lese dir eine Passage vor.«