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Marie-Claire blätterte in dem Buch mit dem schwarzen Schutzumschlag und der rosa-weißen Aufschrift.

»Hier ist es, auf Seite vierundzwanzig! Da werden seitenweise die mitgenommenen Schmuckstücke aufgelistet. Also: ›Wie man merkt, mehren sich die Hinweise auf toskanischen Staatsschmuck, bei welchem es noch weniger als beim österreichischen Staatsschmuck zu begründen gewesen sein mochte, wieso er auf einmal habsburgischer Privatschmuck geworden wäre!‹ Das ist so eine Passage. Und was den Florentiner betrifft, findest du auf Seite siebenundzwanzig des Buches auch eine Stelle, die es in sich hat. ›Als Franz Stephan von Lothringen … das Großherzogtum Toskana im Jahre 1736 als Ersatz erhielt, kam der Florentiner in den Besitz des neuen Großherzogs, wodurch sich der Stein als typisches Staatseigentum charakterisierte … woselbst er … eine … von uns nicht näher zu untersuchende Transmutation in ein habsburgisches Privatschmuckstück erfuhr!‹ Du siehst also, meine liebe Chrissie, dieses Buch wimmelt vor versteckten Andeutungen darauf, dass der Exkaiser letztendlich geklaut hat! Und ein wenig schwingt auch die Vermutung mit, dass die im Exil lebende kaiserliche Familie nicht unerhebliche Wertgegenstände und Gelder irgendwo heimlich in Tresoren versteckt hat, weil sie fürchten musste, dass ihr ganzes Vermögen konfisziert werden würde. Du kannst dir ja vorstellen, welche Empörung eine solche Behauptung im immer noch k.u.k. verliebten Österreich ausgelöst hätte, wenn sie an die breite Öffentlichkeit gelangt wäre. Am Ruf des letzten österreichischen Kaisers darfst du nicht rütteln, erst recht nicht, seit ihn der Papst seliggesprochen hat. Der andere Punkt ist der, dass Sondheimer sehr akribisch Buch darüber geführt hat, wohin er einzelne Schmuckstücke der Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer verkaufte beziehungsweise verschleuderte. Er hat minuziös und detailliert aufgeschrieben, wie er Schmuckstücke bis zur Unkenntlichkeit zerstört, Edelsteine brachial aus ihren Fassungen herausgebrochen hat, damit keiner herausfinden konnte, welchem Kaiser- oder Fürstenhaus die Schmuckstücke gehörten. Den bankrotten Monarchen war wohl peinlich, dass sie plötzlich wie das gemeine Volk mit Pfandleihern zu tun hatten.«

Marie-Claire legte das Manuskript zur Seite, rutschte vom Bett, zog aus einem Stapel von Unterlagen ein Buch heraus, ging zum Kamin, streckte Wärme suchend ihren Rücken dem Feuer entgegen und blätterte in dem Buch.

»Hier, in diesem Standardwerk über Juwelen und Preziosen steht genau beschrieben, welche Schmuckstücke Graf Berchtold, seines Zeichens der Oberstkämmerer der Wiener Schatzkammer, auf Befehl des Kaisers am 1. November 1918 aus den Vitrinen XII und XIII entnahm. Den Großteil davon hat der Schmuckhändler Alphonse de Sondheimer, wie bereits gesagt, in der Schweiz verscherbelt. Irrsinnige Werte waren das! In Zahlen kann man das kaum benennen. Jedes einzelne dieser aufgeführten Schmuckstücke war damals weltbekannt, letztendlich unveräußerlich – und jedes für sich Millionen wert! Alles weg, verhökert! Das müssen schon verrückte Zeiten gewesen sein, damals, im Jahre 1919 bis 1921, hier in der Schweiz. Die Zentralmächte waren zusammengebrochen – und mit ihnen die Landeswährungen. Geld war nur mehr das Papier wert, auf dem es einst gedruckt wurde! Der Schweizer Franken war die Währung überhaupt. Jeder wollte Franken haben. Die aber hast du nur bekommen, wenn du Wertgegenstände und Immobilien hattest. In Bern, Zürich und Luzern ging es damals wohl sehr hoch her. Alle Staaten hatten ihre Vertreter dort. Die Hocharistokratie Europas scharte sich um die Schweizer Banken herum. Der griechische König lebte in Luzern, ebenso wie der Maharadscha von Kapurtala. In Lugano residierten Prinz Nikolaus und die anderen Griechen, in Montreux Prinzessin Palays, die ehemalige Großfürstin von Russland. Im Hotel Dolder in Zürich hielt sich die Großfürstin Anastasia auf. Und Kaiser Karl von Österreich wohnte mit seinem unglaublichen Hofstaat in der Villa Pragins zwischen Lausanne und Genf. Ich sage dir, Chrissie, damals sind in der Schweiz eine ganze Menge Leute sehr reich geworden an der neuen Armut der Fürsten und Könige. Denen blieb nämlich nichts anderes übrig, als ihre Schätze in Franken umzuwandeln. Alle berühmten Schmuckhändler-Dynastien und Bankiers hatten damals ihre Repräsentanten in der Schweiz. Wo Aas ist, sind auch Geier! Tiffany, Rosenheim, Cartier – alle waren sie hier und haben den geflohenen Kaisern, Königen und Fürsten ihre Dienste angeboten. Und die haben verscherbelt, was sie hatten beiseite schaffen können. Oder sie haben alle Wertgegenstände bei Banken oder Juwelierhändlern gegen einen Apfel und ein Ei verpfändet, was meistens eine fatale Angelegenheit war. Denn zurückzahlen konnten die meisten ihre Kredite nicht mehr. Mit wahnwitzigen Summen wurde da jongliert! Nicht mit ein paar Millionen! Mit Milliarden! Diamanten, Brillanten, Königskronen und weiß der Teufel welche Kunstschätze noch verschwanden auf Nimmerwiedersehen. So auch der Florentiner. Wer immer ihn damals erworben hat: Für denjenigen ist es das Geschäft des Jahrtausends gewesen.«

Marie-Claire schwieg eine ganze Weile. Sie war wie gebannt von den detaillierten Schilderungen über die Zustände hier in der Schweiz in den Jahren 1919 bis 1921, nach dem Untergang des monarchistischen Europa und Russlands. Für Momente erinnerte sie sich an den Tag am Wörthersee in Gregors Villa. Die Rede, die sie heimlich gelesen hatte, zeigte mehr als deutlich, dass es ganz offensichtlich noch immer eine nicht unerhebliche Zahl einflussreicher Menschen gab, die weiterhin von einer Monarchie träumten und bereit waren, dafür zu kämpfen. In Österreich gab es dafür sogar eine sehr banale Erklärung. Die Erste Republik hatte sehr schnell jegliche Adelstitel verboten. Aus Aristokraten mit uralten Adelstiteln waren über Nacht titellose Staatsbürger geworden. Viele von ihnen trauerten seither jenen Zeiten nach, da ihr adliger Stand schon über den Namen sichtbar wurde. Der Enkel des letzten österreichischen Kaisers hieß jetzt Karl Habsburg und nicht Karl von Habsburg. Gregor gehörte ebenfalls zu diesen ihres Adelstitels beraubten Dynastien. Er träumte wohl auch davon, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Zweifelsohne saßen diese ewiggestrigen Monarchisten in ganz Europa – so wie die Ritter vom Goldenen Vlies! Waren das jene Leute, die Gregor erwähnt hatte? Waren es seine Auftraggeber, für die er bei Christie’s in Erscheinung getreten war? War deren Interesse an dem Florentiner letztendlich machtpolitisch motiviert? Lag der Fluch des Florentiners darin begründet, dass dieser Diamant immer nur machtgierige Potentaten – europäische Potentaten – ins Unglück stürzte? War der Untergang des einflussreichen Templer-Ordens, eingeleitet durch die grausamen Verfolgungen durch Papst Clemens V. im Jahre 1307 und den Tod des letzten Großmeisters, Jacques de Molay, auf dem Scheiterhaufen, auf diesen Fluch zurückzuführen? Angeblich war der Florentiner über die Templer nach Europa und an die Ritter vom Goldenen Vlies gelangt. Historisch belegt war das jedoch nicht.

Es hatte schon etwas sehr Faszinierendes und Geheimnisvolles mit diesem Diamanten auf sich – und mit den beiden Sancys! Jeder Europäer, jeder Fürstenhof und jedes Königreich des Abendlandes, die mit dem Florentiner zu tun gehabt oder ihn besessen hatten, waren untergegangen. Das war ein Fakt! Aber war es Zufall?

Marie-Claire versuchte die Erinnerung an Gregor abzuschütteln. Seit ihrem letzten Telefonat hatte er sich nicht mehr gemeldet. Wenn es stimmte, dass er und seine Auftraggeber kein Interesse mehr am Florentiner hatten, dann würden sie sich wahrscheinlich nie mehr wieder sehen.

Es irritierte sie, dass sie ausgerechnet hier in diesem Schloss an ihn denken musste. Karl der Kühne war hier in diesem Zimmer und in der ganzen Region allgegenwärtig. Auch er war ein Ritter vom Goldenen Vlies gewesen. Auch er hatte die edelsten und einflussreichsten Männer des damaligen Europas um sich geschart, sie über den Vliesorden moralisch und politisch an sich gebunden, weil auch er, von Größenwahn beseelt, von einem Mittelreich in Europa träumte – mit ihm an der Spitze. Einem mächtigen Pendant zum französischen und zum deutschen Kaiser. Sein Traum war hier bei Grandson zum ersten Mal von eidgenössischen Heeren zerschlagen worden. Und damit hatte der Fluch des Florentiners begonnen. Zumindest hier im Abendland.