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»Und, was erschüttert dich so, dass du dauernd so stöhnst und dein Gesicht verziehst beim Lesen?«, versuchte sie auf andere Gedanken zu kommen und griff nach einem Buch, das auf einem Tisch neben Christiane lag. Ihre Freundin hatte es mitgebracht, aber noch nicht erzählt, um was es in dem Buch ging. Der Titel ließ sie aufmerken: »Sanson – Die Henker von Parisi Was liest du denn für gruselige Geschichten? Reichen dir unser Spukschloss und all die Geschichten um den Florentiner herum noch nicht? Mir jedenfalls brummt der Kopf! Noch nie in meinem Leben bin ich so zwischen historischen Fakten und Legenden hin und her gewankt. Ich weiß schon nicht mehr, was Wahrheit und was Mythos ist. Ich will’s, ehrlich gesagt, auch bald nicht mehr wissen. Ich schreibe jetzt einfach meinen Bericht für Francis Roundell – und dann mache ich Urlaub. Soll er damit machen, was er will. Aber jetzt sag: Was ist das für ein Buch?«

»Fürchterlich blutrünstig und bedrückend ist es! Wenn du dich mit den Abgründen der Menschen beschäftigen willst, wenn du wissen möchtest, wie grausam Menschen sein können und was sie sich alles einfallen lassen, um zu quälen und zu foltern, dann musst du es lesen! Aber es ist schwer verdaulich, ehrlich! Es sind die Memoiren der französischen Henkersfamilie Sanson! Als sechsbändiges Werk erstmals im Jahre 1862 in Paris erschienen.«

»Und so was liest du – freiwillig?«

»Was heißt hier freiwillig, meine Liebe? Du hast mich doch gebeten, mich mit Literatur rund um den Florentiner zu beschäftigen, oder etwa nicht?«

Marie-Claire riss erstaunt die Augen auf. »Du meinst, das da ist die Geschichte des Henkers von …«

»Erraten! Das hier wurde herausgegeben von Henri-Clément Sanson – dem letzten männlichen Mitglied dieser Henkersdynastie, die über mehrere Generationen in Frankreich das schaurige Amt des Scharfrichters ausübte. Auch in Paris zu Zeiten der Revolution.«

»Und genau der hat …?«

»Nein, nicht er selbst! Aber sein Sohn Charles-Henri – genannt der Schöne, was ziemlich skurril ist. Der schöne Henker von Paris! Dieser schöne Henker hat tatsächlich Königin Marie-Antoinette geköpft! Die aus dem Hause Habsburg stammende österreichische Frau des französischen Königs. Jene Frau, die den Florentiner einst von Wien nach Paris brachte.«

Marie-Claire de Vries schluckte betroffen. Das war noch so ein Beispiel dafür, dass der vermeintliche Fluch des Florentiners offensichtlich ausschließlich machthungrige europäische Adelige einholte. Marie-Antoinette war bekannt gewesen für ihre politischen Intrigenspielchen und für ihren zynischen Dünkeclass="underline" »Sollen sie doch Kuchen fressen, wenn sie kein Brot haben«, soll sie über das französische Volk während der großen Hungersnot im Jahre 1788 gesagt haben.

»Die Legende sagt, dass Marie-Antoinette den Florentiner zusammen mit anderen Schmuckstücken während ihrer Haft in ihrem Rocksaum eingenäht hatte. Sie soll ihn dem Henker Charles-Henri Sanson übergeben haben, bevor der sie am 16. Oktober 1793 geköpft hat«, fuhr Christiane fort.

Marie-Claire lächelte. »Na, das ist ja wohl eine jener Legenden, die ich lieber nicht in meinen Bericht erwähne, oder? Das ist doch eher unglaubwürdig: Die Königin schleppt ihre Preziosen mit in den Kerker und schenkt sie dann ihrem Henker? Klingt ziemlich absurd.«

»Nein, ist es keineswegs, liebe Marie-Claire. Wenn du dieses Buch hier liest, kommst du schnell zu dem Schluss, dass es früher wohl gang und gäbe war, sich beim Henker einen schmerzlosen Tod oder andere Annehmlichkeiten zu erkaufen. Bei der Lektüre läuft es dir eiskalt den Rücken runter. Das ist nämlich so etwas wie eine historische Abhandlung über die grausamsten Foltermethoden, die sich Henker über die Jahrtausende hinweg haben einfallen lassen. Von der Schandsäule über den Pranger hin zu Männern, die verkehrt auf einem Esel sitzend durch die Stadt reiten mussten, wenn sie sich von ihrer Frau haben schlagen lassen. Immer waren es Henker, die solche Urteilsvollstreckungen durchführen mussten. Die rissen Menschen Zungen raus, blendeten sie mit glühenden Stangen, rissen ihre Körper bei lebendigem Leibe mit Pferden auseinander. Und wenn der Delinquent sicher sein wollte, dass der Henker beim Köpfen nicht, wie es wohl oft geschah, ein halbes Dutzend Mal mit dem Schwert zuschlagen musste, bis der Kopf ab war, hat er dem Henker vorher ein ansehnliches Sümmchen zukommen lassen. Das gleiche Spielchen haben sie beim Tod auf dem Scheiterhaufen praktiziert. Wenn du als Hexe keine Lust hattest, langsam von den Flammen aufgefressen zu werden, hat der Henker heimlich eine Lanze in dem Scheiterhaufen versteckt, deren Spitze genau auf das Herz zielte. Wenn du Geld hattest, hat der Henker, während die Flammen loderten, die Lanze mit einem Hammerschlag in dein Herz gerammt. Dann hast du nicht mehr gespürt, wie dein mit Schwefel getränktes Kleid in Flammen aufging.«

»Hör bloß auf! Solche Geschichten kann ich absolut nicht gebrauchen. Nicht hier in so einem alten Schloss, in dem überall mittelalterliche Rüstungen herumstehen und alles an Karl den Kühnen erinnert. Der war nämlich ebenfalls für seine äußerst brutalen Methoden bekannt. So genial er wohl als Feldherr war, so grausam war seine Rache, wenn sich Widerspruch oder Widerstand regte. In der Nähe von Lüttich, in einem Ort namens Dinant, hatten einige Bürger Karl verspottet. Der zog mit einem Heer dorthin, brandschatzte die Stadt, ließ alle Kinder und Frauen totschlagen. Achthundert Männer wurden paarweise zusammengebunden und wie Katzen in der Maas ertränkt. Das also zu solch grausigen Dingen, liebe Chrissie. Der Mann, der das angeordnet hat, lag nämlich einst in dem Bett hier, in dem wir jetzt nächtigen! Hoffen wir, dass wir es nicht auch noch mit einem Fluch Karls des Kühnen zu tun kriegen. Mir reicht es nämlich langsam mit Flüchen.«

»Mich interessiert dieses Henkerslexikon eigentlich nur, weil es tatsächlich heißt, dass Marie-Antoinette dem Henker von Paris in der Nacht vor ihrer Hinrichtung den Florentiner gab. Sie hatte in der Conciergerie, dem Gefängnis, immer ihre schwarze Trauerkleidung getragen, weil sie ja ihren Mann schon hingerichtet hatten. Für ihre Hinrichtung zog sie aber sehr früh am Morgen in Gegenwart des Henkers ihr weißes Totenkleid und die weiße Kopfhaube mit dem schwarzen Band an. Im Saum des schwarzen Kleides, so heißt es, waren Schmuckstücke versteckt. Darunter der Florentiner. Das zu den Legenden, an denen angeblich ja immer etwas Wahres dran ist. Kannst es ja in deinem Bericht erwähnen.«

Marie-Claire des Vries hatte sich an den Tisch gesetzt. Der Laptop stand vor ihr. Es fiel ihr schwer, sich auf den bereits angefangenen Bericht für Francis Roundell zu konzentrieren. Die Flut der historischen und kunsthistorischen Informationen auf die für solche Berichte üblichen zehn Seiten zu bringen, schien ihr unmöglich. Schließlich entschied sie sich, die harten Fakten von den Legenden und den Mythen zu trennen.

Im Lauf des Tages hatte sich der Nebel draußen wieder verdichtet. Die eigentümliche Stille im und außerhalb des Schlosses machte sie plötzlich nervös. Die makabren Dinge, die ihr Chrissie aus dem Buch über den Henker vorgelesen hatte, verstärkten ihre zunehmend schwermütigen Gedanken. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sich Unheilvolles anbahnen. Es war nur ein Gefühl, durch nichts erklärbar, aber es ängstigte sie. Zu oft in den letzten Wochen hatte sie ähnliche Gefühle gehabt, und immer waren tatsächlich dramatische Dinge geschehen. Was würde als Nächstes passieren? Morgen würde Sanjay Kasliwal kommen. Barg auch er ein Geheimnis in sich? Wusste der sanftmütige Inder mehr über den Florentiner, als er ihr gesagt hatte? Unruhig richtete sich Marie-Claire auf und schaute hinüber zu Christiane. Ihre Freundin hatte das Buch beiseite gelegt. Auch sie schien in Gedanken vertieft zu sein, starrte in die Glut des Feuers und nippte an dem Glas Rotwein.