»Chrissie …«
»Ja …«
»Glaubst du an solche Sachen wie Karma und Flüche? Glaubst du daran, dass es keine Zufälle gibt, dass die Dinge des Lebens vorbestimmt sind?«
»Nun ja, was soll ich sagen? Ich bin Kunsthistorikerin. Ich tendiere dazu, mich an Fakten zu orientieren.«
»Chrissie!«
»Ja?«
»Weich meiner Frage nicht aus! Glaubst du an Karma – an Flüche?«
»Nun ja, wenn du mich so nachdrücklich fragst, Marie-Claire … was soll ich dazu sagen. Also …«
»Danke! Das reicht mir als Antwort.«
18. Kapitel
Sanjay Kasliwal kam gegen Mittag auf Chateau de Vaumarcus an. In dem Moment, da sein Wagen über die Zugbrücke in den Innenhof des Schlosses fuhr, riss die Nebeldecke über dem See auf. Marie-Claire de Vries und ihre Freundin Christiane Schachert hatten sehr lange geschlafen. Nun standen beide auf der Terrasse des Schlosses und bewunderten das unten im Tal aus den letzten Nebelfetzen des Sees wie eine Fata Morgana langsam auftauchende Naturwunder. In der Nacht hatte es in den Alpen auf der gegenüberliegenden Seeseite kräftig geschneit. Dort drüben verbargen sich nahe des Berner Oberlandes Eiger, Mönch und Jungfrau. Die Sonne touchierte die weißen Berggipfel und kolorierte das Tal mit dem See in Pastellfarben. Die taubenetzten letzten Blätter auf den uralten Bäumen im Park des Schlosses glitzerten wie Gold. Die umliegenden Wiesen und Weinberge strahlten eine einzigartige Ruhe aus. Die gelb-braunen Holzläden an den Fenstern des Schlosses akzentuierten das Bruchsteingemäuer mit den drei konischen Türmen. Der Morgentau auf den Auwiesen zwischen Schloss und See, auf denen sich einst die Heerscharen Karls des Kühnen und der Schweizer gegenübergestanden hatten, war gefroren und glitzerte im Zwielicht.
Sie sahen das Auto die Straße zum Schloss heraufkommen. Marie-Claire war weniger aufgeregt als Chrissie, die eine Stunde lang vor dem Spiegel im Bad gestanden und sich geschminkt hatte, weil sie, wie sie frotzelnd bemerkte, nicht jeden Tag einen Prinz aus dem Morgenland treffen würde. Aber Sanjay sah so gar nicht wie ein Prinz aus. Statt in einer Nobelkarosse vorzufahren, wie Chrissie es erwartet hatte, stieg er aus einem offensichtlich gemieteten Kleinwagen aus. Er trug Jeans, einen einfachen Pullover und eine gefütterte Lederjacke.
»Bonjour, Mademoiselle des Vries, einen wunderschönen guten Tag, Marie-Claire«, strahlte er und streckte ihr seine weit geöffneten Arme entgegen, als seien sie seit Jahrzehnten die engsten Freunde. »Sehen Sie, Marie-Claire, jeder Fluss beginnt mit einem mickrigen, kleinen Tropfen Regen. Alles beginnt mit etwas, dem wir keine große Bedeutung beimessen, das aber plötzlich zum pulsierenden Zentrum des Geschehens wird. Damals, in Berlin, hatte ich erwähnt, dass ich vielleicht nach Grandson fahren würde. Vielleicht, hatte ich gesagt! Jetzt sind Sie und Ihre charmante Freundin hier – und ich auch …«
Da war es wieder! Marie-Claire liebte diese kryptischen Andeutungen, die blumige Sprache dieses Mannes, voller Aphorismen und philosophischer Gedanken. Es war eine Sprache, wie sie sie in den arabischen Ländern kennen und lieben gelernt hatte. Eine Sprache, die zu Sanjay passte: sanft, warmherzig – ehrlich! Marie-Claire sah, wie Chrissie den groß gewachsenen Inder mit den tiefdunklen Augen bewundernd anstarrte.
Weil die Dezembersonne das Schloss, den See und die Alpen in den herrlichsten Farben erstrahlen ließ und sie alle drei das Verlangen hatten, die Umgebung zu erkunden, fuhren sie kurz darauf hinab ins Tal und weiter nach Grandson. Schon auf der Fahrt in das nur wenige Minuten entfernte Grandson erklärte Sanjay, dass er gedenke, über Nacht zu bleiben. Marie-Claire blickte ihre Freundin Christiane an. Chrissie saß auf dem Rücksitz und schmunzelte. Der Gedanke an eine gemeinsame Nacht im Bett von Karl dem Kühnen zusammen mit einem Prinzen aus dem Morgenland löste in ihr offensichtlich die wildesten Fantasien aus, aber Sanjay Kasliwal ließ keine Missverständnisse aufkommen.
»Ich habe auf der Herfahrt im Ort herumgefragt. Es ist ein kleines Dorf. Ein Hotel gibt es nicht. In Neuchâtel soll es angeblich ein wunderschön am See gelegenes Suitenhotel geben. Das ist mir allerdings zu weit. Also habe ich mir in der einzigen Pension in Grandson ein Zimmer reserviert. Es ist sehr schlicht, um es vornehm auszudrücken, aber es soll dort exzellente Wildgerichte geben. Außerdem hat es einen sehr netten Namen. Da konnte ich nicht widerstehen.«
Das L’Auberge du Cheval Blanc lag mitten im Ort, nur wenige Meter von jener alten Festung am See entfernt, die Karl der Kühne im Januar des Jahres 1476 mit fünfzehntausend Soldaten belagert hatte. Die Schweizer Verteidiger ergaben sich, wurden aber im Auftrag des Herzogs allesamt hingerichtet oder im See ertränkt.
Dass Sanjay sich diese einfache Pension ausgesucht hatte, zeigte Marie-Claire, dass der reiche Schmuckhändler aus Jaipur alles andere als kapriziös oder anspruchsvoll war. Das schlichte, dreigeschossige Haus mit den griechischblauen Fensterläden war für das kleine Örtchen Grandson sowohl Bar, Restaurant, Pension wie auch Feinkostladen. Und das Essen war tatsächlich exzellent. Eine Speisekarte gab es nicht, dafür aber eine Hausherrin, die sowohl Köchin als auch historisch bewanderte Gesellschaftsdame war. Wie sie den köstlichen Rehbraten mit Rotkraut und Knödeln so schnell herbeigezaubert hatte, gab sie nicht preis. Marie-Claire kam zu dem Schluss, dass es wohl das Mittagessen der Familie war, das ihnen da aufgetischt wurde.
Der Mittag in dem Gasthof verlief so unglaublich entspannt, dass Marie-Claire nicht glauben wollte, diesen Mann erst seit kurzer Zeit zu kennen, ihn erst ein einziges Mal, damals in Berlin, getroffen zu haben. Christiane schien von Sanjay maßlos begeistert zu sein. Ihre Blicke ließen keine Zweifel aufkommen, dass sie Sanjay anhimmelte, aber sie hatte Stil genug, es nicht zu deutlich zu zeigen. Ihr herzliches Lachen und ihre offene Art zu plappern trugen maßgeblich dazu bei, dass sie sich schnell die zweite Flasche Wein bestellten und sich in zwanglosen Plaudereien verloren. Dann ging Sanjay plötzlich zu seinem Wagen und kehrte mit einem kleinen Päckchen zurück.
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, Marie-Claire! Ich habe Ihnen als kleine Aufmerksamkeit ein Buch mitgebracht, das ich erst vor wenigen Tagen auf einer Auktion erwerben konnte. Es ist ein sehr altes Buch, mit vielen alten Wahrheiten, die so beständig sind wie Diamanten! Ich hoffe, es macht Ihnen viel Freude, darin zu lesen. Da Sie sicherlich Latein können, werden Sie danach vielleicht ein wenig besser verstehen, warum ich fest davon überzeugt bin, dass die wahre Bedeutung eines Edelsteins nicht in dem materiellen Wert, den ihm die Gegenwart beimisst, liegt, sondern in seiner Kraft und Energie aus der Vergangenheit.«
Gerührt von Sanjays Worten öffnete Marie-Claire das Päckchen. Ihr Atem stockte, als sie das offensichtlich sehr alte, leicht stockfleckige, aber noch in exzellentem Zustand befindliche Buch mit den herrlichen Holzdrucken aufschlug. Es war die Coronae Gemma Nobilissima des Wilhelmus E. Newheusern aus dem Jahre 1621. Ein philosophischer Exkurs über die Beziehung zwischen Planeten, Sternen, Edelsteinen – und dem Menschen. Es war eindeutig ein Original. Vorne eingelegt steckte ein zusammengefalteter Bogen Briefpapier. Sie öffnete ihn. Er trug Sanjays persönlichen Briefkopf mit seiner Anschrift in Jaipur. Unter seine liebevollen Geburtstagswünsche hatte er ein Zitat geschrieben:
Und also werden die Edelsteine
von Feuer und Wasser erzeugt,