»Streitet ihr euch deswegen?«, fragte Marie-Claire.
»Nein, nicht wirklich. Nicht mehr! Früher hatten wir öfters Auseinandersetzungen wegen geschäftlicher Belange. Er stellt den hohen Profit über die Zufriedenheit eines Kunden. Pappu würde dir einen Kieselstein als Edelstein verkaufen, wenn du selbst es nicht merken würdest. Ihm ist es egal, was Kunden denken. Er liebt es, Geld anzuhäufen.«
Sanjay blieb stehen. Er schaute nachdenklich zu den Alpen auf der anderen Seite des Sees. Dann lachte er laut.
»Pappu ist wie dieser Dagobert Duck, diese Comicfigur, die es liebt, auf Goldbergen zu sitzen, Dukaten zu scheffeln und sich Böses auszudenken, um noch mehr davon zu bekommen. Wenn Pappu diese legendäre Statue mit dem darin verborgenen Schatz besäße, er würde nicht ein einziges Karat davon an unser Volk abgeben. Pappu würde es einfach so sehen, dass dieser Schatz unseren Vorfahren gehörte – und damit auch ihm. Aber lassen wir das. Es ist ein unrühmliches Thema. Und es ist irrelevant. Die Statue wird wohl immer verschlossen bleiben. Zwei der drei Diamanten, zwei der Tränen Gottes sind weg – verschwunden. Die Göttin Sita scheint zu wissen, dass es nicht gut ist, wenn die Statue wieder geöffnet würde. Vielleicht spielt sie Pappu damit einen Streich.«
Marie-Claire blickte Sanjay fasziniert an. Obwohl es erst ihr zweites Zusammentreffen war, war er ihr unendlich vertraut. Er schien ebenso zu empfinden, denn er ließ sie an seinen tiefsten Empfindungen teilhaben. Sanjay war stehen geblieben und schaute Richtung Grandson. Marie-Claire folgte seinem Blick und versuchte, von den heiklen familiären Dingen abzulenken.
»Wie meinen Sie das eigentlich, Sanjay? Wieso gibt es Ihrer Einschätzung nach eine enge Verbindung zwischen den Geschehnissen hier am See und jenen in Ihrer Heimat?«
»Wenn Sie sich mit der Geschichte einiger der berühmtesten Schmuckstücke und Diamanten der Welt beschäftigen, Marie-Claire, stoßen Sie ausnahmslos auf berühmte Adelsgeschlechter Europas. Aber auch auf berühmte Handelshäuser. Sie werden in den Wappen dieser Häuser und Herrscher auffallend oft schwarzhäutige Menschen finden! Sie müssen sich vor Augen halten, dass sich der Reichtum und damit der Einfluss dieser Handelshäuser und der Aristokraten maßgeblich auf den Kontakt und den Handel mit dem Mohrenland begründete. Unter dem Mohrenland verstand man schon immer Afrika und das Morgenland, also auch Indien. Als die Portugiesen den Seeweg nach Afrika suchten, stießen sie, nach der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung, auf die ostafrikanischen Städte Mombasa und Malindi. Dort kamen sie dahinter, dass seit Jahrtausenden Schiffe zwischen Indien und Ostafrika verkehrten. Damit war der Seeweg von Europa über Afrika nach Indien entdeckt. Der Handel mit dem Mohrenland begann – und das machte nicht zuletzt Fugger, Welser und viele italienische Handelshäuser reich.«
Marie-Claire hörte ihm fasziniert zu. Warum er ihr all das erzählte und wo da ein Zusammenhang mit Grandson, mit dem Florentiner bestand, war ihr jedoch noch nicht klar.
»Sardinien hat zum Beispiel gleich vier Mohren in seinem Wappen. Korsika führt auch Mohren im Wappen. Der berühmte deutsche Bischof Otto von Freising hat sich das Recht, einen Mohren im Wappen zu tragen, mit seiner Teilnahme am zweiten Kreuzzug verdient. Und was ich erst seit einigen Tagen weiß, der neue deutsche Papst Ratzinger, also Benedikt XVI., hat links oben auch einen Mohren in seinem Wappen! Ist doch interessant, oder? Ein wenig vereinfacht ausgedrückt ließe sich also sagen: Die Verbindung des Abendlandes zum Mohrenland und auch die Kreuzzüge waren die wirtschaftliche Basis des unvorstellbaren Reichtums der europäischen Handels- und Herrscherhäuser. Und der Reichtum des Papstes begründet sich wohl auch darauf! Meine Heimat Indien gehörte zum Mohrenland, und in der Diktion der damaligen Zeit bin auch ich ein Mohr! Aus meinem Land stammen fast all jene Diamanten, die Karl der Kühne hier, genau hier, wo wir jetzt stehen, am Ufer des Lac de Neuchâtel, bei sich trug. Aus meinem Land stammen die berühmten ›drei Brüder‹, die Karl der Kühne besaß. Mein Bestimmung ist es, sie zu finden.«
Sanjay Kasliwal drehte sich um und blickte auf die Auen und die dahinter steil ansteigenden Hügel.
»Das da drüben ist das Kloster von La Lance. Und der Ort dort hinten ist wohl Concise. Somit, liebe Marie-Claire, stehen wir genau auf jenem Schlachtfeld, auf dem am 2. März 1476 die zwanzigtausend Soldaten von Karl dem Kühnen den achtzehntausend der Schweizer Eidgenossen gegenüberstanden. Genau hier, Marie-Claire, begann der Untergang des Burgundischen Reiches. Und genau hier hatte Karl der Kühne sein Lager aufgebaut. Als er von den Schweizern überrannt wurde, ließ er all seine Reichtümer zurück. Vierhundert Wagenladungen Beute machten die Schweizer, darunter unvorstellbare Schätze, Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Alles zusammen soll diese Beute damals eine Millionen Gulden wert gewesen sein! Sie wissen ja, Marie-Claire, dass Karl der Kühne eine ungewöhnlich pompöse Hofhaltung liebte. Er nahm seinen unermesslich wertvollen Schatz stets mit auf die Schlachtfelder. Wahrscheinlich weil er es gewohnt war, immer als Sieger von dannen zu ziehen. Zumindest bis zu jenem 2. März des Jahres 1476, dem Tag ….«
»… an dem er floh und dabei drei seiner wertvollsten Diamanten zurückließ: die legendären göttlichen drei Brüder – darunter jenen Diamanten, der später der Florentiner genannt werden sollte.«
Marie-Claire hatte Sanjay unterbrochen, um seine Ausführungen zu vollenden. Eine tiefe Ehrfurcht vor diesem so unglaublich gebildeten Mann überkam sie, aber auch eine eigentümliche Ehrfurcht vor dieser Wiese, auf der sie beide jetzt standen und sich zum ersten Mal, seit sie sich kannten, lange in die Augen schauten.
»Hat es eine große Bedeutung für dich, hier zu stehen?« Marie-Claire hatte ihn geduzt, weil sie das Verlangen hatte, ihre Gefühle deutlicher zu zeigen. Er registrierte es mit einem warmherzigen Lächeln.
»Ja, es ist ein sehr erhebendes Gefühl! An dieser Stelle fielen diese drei Edelsteine, die auf vielen Umwegen aus meiner Heimat Indien hierher gelangt waren, auf den Boden. Hier fand ein Bauer sie, wollte sie wegschmeißen, weil er sie für Glassteine hielt. Für drei Gulden wechselten sie schließlich ihren Besitzer, der größte von ihnen wurde viele Jahre später für fünftausend Gulden weiterverkauft …«
»… gelangte zu Lodovico Moro, dem Herzog vom Mailand …«
»… wurde für zwanzigtausend Gulden von Papst Leo X. erworben …«
»… und gelangte damit in den Besitz der Maria de Medici …«
»… die ihn ›Florentiner‹ nannte …«
»… Durch die Heirat von Franz Stephan von Lothringen-Toskana mit Maria Theresia von Österreich gelangte er nach Wien in die Schatzkammer …«
»… wurde von Marie-Antoinette mit nach Paris genommen …«
»… gelangte nach der Hinrichtung von Marie-Antoinette auf unbekannten Wegen in die Hände von Napoleon …«
»… und kehrte wieder zurück nach Wien, wo er im Jahre 1919 aus der Schatzkammer genommen wurde …«
»… und seither verschwunden ist!«
Marie-Claire und Sanjay blickten sich an. Ihre Augen strahlten. Die Sonne war während ihres Wortwechsels, der gegenseitigen Ergänzung ihres Wissens, untergegangen. Marie-Claire hatte das Gefühl, dass sich zwei Seelen gefunden hatten. Weder sie noch Sanjay hatten gezögert, ihr Wissen um den Florentiner miteinander zu teilen. Schon in Berlin waren sie so offen zueinander gewesen. Hier führten sie fort, was Sanjay damals ihre gemeinsame Vorsehung genannt hatte. Es war ein wunderbares Gefühl. Sie ergänzten und vertrauten sich. Grenzenlos!