»Und wo ist deiner Meinung nach der Florentiner jetzt?«, versuchte sie, verwirrt von ihren großen Gefühlen, abzulenken.
»Sita weiß es. Und Madame und Monsieur Ostier!«
Marie-Claire zuckte zusammen. Diesen Namen hatte sie schon einmal gehört. Nein, sie hatte ihn gelesen. Gestern hatte sie über den Namen hinweggelesen, weil er im Kontext mit all den anderen Informationen in den Tagebüchern des Alphonse de Sondheimer über den Verkauf der Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer keine Bedeutung für sie hatte. Aber jetzt erinnerte sie sich. Ostier! Ja, auf der handschriftlichen Zeichnung, die eher einer Skizze ähnelte, hatte oben links der Name Ostier gestanden. Es war eine Skizze, ganz offensichtlich von einem Experten angefertigt, die den Schluss zuließ, dass geplant war, den Florentiner zu zerschneiden. Von Ostier? Ihr sagte der Name nichts.
Marie-Claire traute sich nicht, nach dem Ehepaar zu fragen, und lenkte ab. »Wer ist Sita?«
Sanjay schien auf die Frage gewartet zu haben. »Wie du vermutlich weißt, bin ich Hindu. Wir bezeichnen unsere Religion als Sanatana Dharma, was so viel bedeutet wie ewige Ordnung. Gemeint ist damit eine kosmische, aber auch eine menschliche Ordnung. In dieser ewigen Ordnung gilt Sita als eine Göttin für Glück und Wohlstand. Im Epos Ramajana wird übrigens das Leben Sitas mit ihrem Mann Rama erzählt. Die Legende besagt, dass diese Göttin die drei aus der Statue entwendeten Diamanten mit einem Fluch belegt hat. Du erinnerst dich, ich hatte dir das damals in Berlin schon erzählt. Und das sind unsere göttlichen drei Brüder, der Große Sancy, der Kleine Sancy und der Florentiner. Hier, wo wir jetzt stehen, hat der Fluch dem Burgunder Karl dem Kühnen zum ersten Mal Unglück gebracht. Zwei Monate später erlitt er die nächste Niederlage in Murten. Ein knappes Jahr danach starb er vor den Toren von Nancy! Seither ziehen sich die Spuren dieses Fluchs der Göttin Sita, der auf den Steinen liegt, durch ganz Europa. Die Gier nach den göttlichen drei Brüdern hat bereits viele Menschen das Leben gekostet. Und noch immer streben Menschen danach, ihrer habhaft zu werden. Das Wissen, wo einer dieser Diamanten ist, kann tödlich sein.«
Marie-Claire hatte nicht wirklich zugehört, was Sanjay gesagt hatte. Zu sehr war sie mit dem Namen Ostier beschäftigt, aber sie fragte immer noch nicht nach.
»Glaubst du an solche Flüche?«
Sanjay atmete tief durch. »Ich mache mir keine Gedanken über das Glauben. Ich glaube! Im Zusammenhang mit Diamanten ist es wichtig, einen festen Glauben an das Überirdische zu haben. Es gab eine Zeit hier in Europa, da wurden viele Kopien von berühmten Edelsteinen aus Quarz hergestellt. Übrigens auch vom Florentiner! Die Menschen glaubten damals an die heilende Wunderwirkung der Quarze – nicht an den materiellen Wert eines echten Diamanten! Du siehst also, der wahre Glauben hebt materielles Denken auf. In meiner Heimat bringt man den Glauben an die göttliche Kraft der Diamanten in einen engen Zusammenhang mit dem Licht. Auch mit dem Licht der Erleuchtung. Du weißt, das innere Feuer eines Diamanten ist einzigartig. Sein Funkeln, das Chaos der Lichtblitze in seinem Inneren ist ein Wunder. In Indien sagen wir: Die völlige Abwesenheit von Licht ist Finsternis – nichts! Das höchste Licht ist das Eine – das Eine ist aber zugleich das erste Schöne – Lichthaftigkeit ist Schönheit. Je höher etwas in der Seinsordnung steht, je lichthafter ist es, desto schöner ist es auch! All das eint sich in einem Diamant.«
Marie-Claire spürte, wie Sanjays Denken ihre eher wissenschaftlich-pragmatische Einstellung aushöhlte. Was er sagte, berührte sie tief, aber sie konnte sich jetzt nicht wirklich darauf konzentrieren. Zu sehr wühlte die Frage sie auf, wen er mit Ostier gemeint hatte. Sie glaubte, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu bemerken, als sie ihn schließlich fragte: »Und wer ist Ostier?«
Sanjays Augen bekamen einen eigentümlichen Glanz. Sein Blick war irritierend sanft, und sein Lächeln wirkte gequält.
»Wir haben heute wunderschöne Stunden miteinander verbracht, und wir haben uns gegenseitiges Vertrauen bewiesen. Das ist ungewöhnlich zwischen zwei Menschen, die sich kaum kennen. Aber vielleicht kennen wir uns ja schon. Von früher. Und da, wo es ein Früher gab, da wird es auch ein Später geben. In meiner Religion ist das so. Ich werde dir später erzählen, wer Madame und Monsieur Ostier waren. Sie leben beide nicht mehr. In mir lebt nur noch die Erinnerung an sie.«
Erschrocken stellte Marie-Claire fest, dass sie mit ihrer Frage zu weit gegangen war. Sanjay wirkte plötzlich abweisend. Er bat sie, zum Auto zurückkehren zu können. Angeblich fror er. Sie glaubte ihm nicht.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, das hast du nicht. Nichts von dem, was du sagst, kann falsch sein, denn es kommt tief aus deinem Inneren. Alles ist in Ordnung. Es ist nun einmal deine Aufgabe, den Florentiner zu suchen. Ich suche ihn auch. Wo die beiden Sancys derzeit sind, wissen wir nicht. Du bist beruflich daran interessiert, das zu ergründen, versuchst, diese Edelsteine zu finden. Oder zumindest dazu beizutragen, dass sie gefunden werden. Damals in Berlin habe ich dir schon gesagt, dass ich glaube, dass die göttliche Fügung uns einen wird. Deshalb verstehe ich auch, dass du wissen möchtest, wer sich hinter dem Namen Ostier verbirgt. Nein, alles ist in Ordnung, Marie-Claire. Ich bin nur sehr müde und würde mich gerne ein wenig auszuruhen. Wenn ich nicht zu sehr störe, können wir uns zum Abendessen in eurem Schloss treffen. Ich würde gerne das Zimmer sehen, in dem Karl der Kühne einst nächtigte.«
Gegen fünf Uhr am Abend erreichten sie Schloss Vaumarcus. Während Sanjay ins Tal fuhr, stieg Marie-Claire die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer. Die ganze Zeit über war sie das Gefühl nicht losgeworden, dass sich ein Schatten über Sanjays und ihr Verhältnis zueinander gelegt hatte. Misstraute er ihr? Sie betrat das Zimmer Charles le Téméraires. Christiane saß vor dem Kamin und las.
»Hallo, Glücksgöttin! Komm bloß nicht auf die Idee, mir jetzt von romantischen Spaziergängen am See zu erzählen! Dann stürze ich mich nämlich aus dem Fenster vor Eifersucht! Ist das ein Mann! Für den schmeiße ich alles hin! Ich reiße mir die Kleider vom Leib und offeriere mich als seine treue Dienerin, wenn es sein muss. Ohne Fragen zu stellen. Seit heute weiß ich, dass es diese Märchenprinzen aus dem Morgenland wirklich gibt. Mein Neid ist mit dir, meine Liebe! Also sei gewarnt: Wenn du den vergraulst, werfe ich mich ihm sofort an den Hals – wenn er mich denn haben möchte.«
Marie-Claire musste lachen. Chrissie meinte all das sehr ernst. Ohne auf ihre Bemerkungen einzugehen, suchte Marie-Claire ihr Handy, das sie im Zimmer hatte liegen lassen. Sie fand es im Bett.
»Ach übrigens«, wandte sich Christiane nochmals an sie, »seit mehr als zwei Stunden klingelt das Ding da im Abstand von zehn Minuten. Vielleicht ist es dein Lover aus Marrakesch. Oder der reumütige Gregor! Mein Gott, deine Sorgen möchte ich auch mal haben. Gleich drei Männer …«
Als Marie-Claire de Vries auf ihr Handy schaute, zeigte die Uhr auf dem Display drei Minuten nach fünf an. Laut Anrufspeicher war der letzte Anruf vor einer Viertelstunde eingegangen. Es war eine Wiener Nummer, die sie nicht kannte. Ihr Interesse galt jedoch im Moment einzig diesem geheimnisvollen Namen Ostier. Sie schaltete den Laptop ein und wählte sich über das Handy ins Internet ein. Es dauerte lange, bis sie über die Kombination mehrerer Suchbegriffe fündig wurde. War das eine neue heiße Spur? Zeichnete sich hier ab, was mit dem Florentiner geschehen war, nachdem der österreichische Kaiser den Diamanten mit 1,2 Millionen Franken beliehen hatte und das Geld nicht hatte zurückzahlen können, weil er nach Madeira verbannt worden war? Wer hatte diesen wertvollen Diamanten als Sicherheit erhalten? Und was war dann mit ihm geschehen? War der Name Ostier der Schlüssel zu diesem Geheimnis? Ein Schlüssel, der vielleicht sogar dazu führen konnte herauszufinden, wer den Florentiner heute besaß? Hatte Sanjay deswegen gezögert, ihr mehr über diese Ostiers zu sagen?