Shan schloß die Augen und konzentrierte sich auf die Einzelheiten, die er Oberst Tans Dienstakte entnommen hatte. Stationierungen in der Mandschurei, der inneren Mongolei und der Provinz Fujian, aber vor 1985 kein Aufenthalt in Tibet. Er starrte aus dem Fenster auf die einsame Landschaft. Alles war falsch. Alle seine Annahmen hatten sich als Irrtümer erwiesen. Er hatte gedacht, die Schlüsselperson wäre Direktor Hu, aber er hatte sich geirrt. Er hatte gedacht, es ginge um die Schädelhöhle, doch dann hatte er Yerpa gefunden. Er hatte gehofft, es würde sich lediglich um Streitigkeiten unter Plünderern handeln, aber ein Plünderer tötete nicht wegen eines Schreins, um dadurch einen anderen Schrein zu beschützen. Er hatte gedacht, vielleicht wäre nur Li darin verwickelt, dann Li und der Major, doch keiner der beiden hatte irgendeine Verbindung zu Tamdin. Er hatte geglaubt, Sungpo könnte niemals der Täter gewesen sein, aber wer außer einem Mönch hätte den Schädel in der Höhle so ehrfurchtsvoll umgebettet? Er hatte gedacht, das Lotusbuch würde die Antworten und die Motive liefern, aber das Lotusbuch erwies sich als unzuverlässig. Das alles waren Teile des Puzzles, doch die Größe und Form des Bildes entzogen sich bislang seinem Verständnis, und er hatte keine Ahnung, wie viele Teile er noch benötigte, bis die verschiedenen Informationen endlich einen Sinn ergeben würden.
Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise, hatte Tsomo ihn erinnert. Er mußte ganz von vorn beginnen, den Kopf freibekommen und so tun, als wüßte er nur, daß er nichts wußte. Und da war ziemlich viel, das er nicht wußte. Er wußte nicht, wer das Tamdin-Kostüm hatte. Er wußte nicht, wer den ragyapas die gestohlenen Armeevorräte gegeben hatte. Er wußte nicht, weshalb die purbas falsche Einträge im Lotusbuch festhalten sollten. Er wußte nicht, warum Jao sich für die Wasserrechte einer entlegenen Bergregion interessiert hatte. Er hatte den Eindruck, er wäre der Antwort seit dem Tag, an dem man Jaos Kopf gefunden hatte, kein Stück nähergekommen. Falls er jetzt in Lhasa zu keinen neuen Erkenntnissen gelangte, hätte er keine Hoffnung mehr, den wahren Mörder zu finden und Sungpo zu retten. Und wenn er sich dann weigerte, einen Bericht zu verfassen, in dem ein unschuldiger Mönch verurteilt wurde, bestand auch keine Hoffnung mehr, daß er sich selbst oder die 404te retten könnte.
Sie fuhren zu einem Lagerhaus am hinteren Ende des Flughafens, wo ein verschlafener Zollbeamter sie durchwinkte und zwei Frachtarbeiter darauf warteten, daß Fowler jedem von ihnen einen 10-Renminbi-Schein in die Hand drücken würde. Erst dann luden sie die Kisten aus und rollten einen Karren zum Wagen, auf dem sich ein Gestell mit leeren Kanistern befand. Keine fünfzehn Minuten später befanden Shan und die Amerikaner sich auf der Straße nach Lhasa.
Nach einer Stunde bot sich ihnen der vertraute Anblick der niedrigen schieferfarbenen Häuserblöcke, die Peking überall in China für die Stadtarbeiter errichten ließ. Die Wege neben der Straße füllten sich langsam mit Gestalten in graubrauner Kleidung. Hagere Ponys zogen Karren hinter sich her, auf denen in Plastikfässern die Fäkalien der Nacht aus der Stadt geschafft wurden. Bauern trugen große Netztaschen voller Kohlköpfe und Zwiebeln. Hühner und kleine Schweine hingen mit verschnürten Beinen kopfüber von Stangen herunter, die wiederum auf Fahrrädern balanciert wurden. Großeltern gingen mit ihren Enkeln zum Markt. Die Straßen wirkten eher chinesisch als tibetisch, und mit plötzlichem Kummer erinnerte Shan sich an den Grund dafür. Die Stadt war von Peking »naturalisiert« worden, indem man zusätzlich zu den fünfzigtausend Tibetern, die hier lebten, hunderttausend Chinesen angesiedelt hatte. Soweit er sehen konnte, hatte man Lhasa, was auf tibetisch »der Wohnsitz Gottes« bedeutete, in ein weiteres dieser grauen, verräucherten Stadtgebiete verwandelt, die sich überall im modernen China fanden.
»Vielleicht können wir noch etwas mehr tun«, sagte Fowler, als Kincaid den Wagen vor dem gelbgrauen zweigeschossigen Gebäude anhielt, in dem Jansens Büro untergebracht war. »Sie wollen die Unterlagen über die Wassergenehmigungen. Aber man wird sie Ihnen nicht zeigen. Nicht ohne Legitimation.«
»Vielleicht fällt mir eine Möglichkeit ein. Ich kenne die Sprache der Bürokraten.« Shan stieg aus und wandte sich vom Wagen ab. Zum erstenmal sah er die Altstadt vor sich.
»Nein, Tyler wird gehen. Man wird es ihm nicht verweigern, wenn er darum bittet, seine eigenen Genehmigungen einsehen zu dürfen.«
Aber Shan konnte nicht antworten, denn da vor ihm war er, auf dem Gipfel des kleinen Berges, der sich über der Stadt erhob. Genaugenommen war es der gesamte Berg, der das Stadtbild beherrschte. Seine mächtigen unteren Mauern, strahlend weiß und steil aufragend, verliehen dem Hauptgebäude den Anschein eines riesigen goldbedachten Tempels, der über dem Schnee des Himalaja schwebte. Die Klippe des Daseins, hatte Trinle diese Mauern einst in einer Wintergeschichte genannt, so hoch, so unerschütterlich, so verlockend, daß sie ihn an den Weg zur Buddhaschaft denken ließen.
Noch nie im Leben hatte Shan Angst gehabt, etwas anzusehen. Er fühlte sich unwürdig, dieses Gebäude anzustarren. Er hatte sich geirrt. Ein Teil von Gottes Wohnsitz hatte überdauert. Er schaute kurz hinab auf seine Füße und wunderte sich, wie plötzlich ihn diese Gefühle übermannten Dann richtete sein Blick sich wieder auf den Potala-Palast, ohne daß er etwas dagegen tun konnte.
»Was machen Sie da?« fragte Kincaid auf einmal und streckte die Hand aus, als wolle er Shan auffangen.
Shan bemerkte, daß er unbewußt auf die Knie gefallen war. »Ich schätze«, sagte er, immer noch völlig verwundert, »ich tue dies hier.« Und dann verneigte er sich und berührte mit der Stirn den Boden, wie es sonst nur die Pilger taten, wenn sie das heilige Bauwerk zum erstenmal erblickten.
Die meisten der alten Yaks hatten eigene Namen dafür oder liebten es, die vielen Bezeichnungen aufzuzählen, die dem Gebäude in der tibetischen Literatur verliehen worden waren. Der Sitz des Allerhöchsten. Das Juwel in der Krone. Die Erhabene Festung. Buddhas Tor. Einer der jüngeren Mönche hatte stolz berichtet, er habe den Potala in einer westlichen Zeitschrift auf einer Liste der Weltwunder gesehen. Die alten Yaks hatten bei dieser Neuigkeit höflich gelächelt. Jetzt wußte Shan, was sie in diesem Moment alle gedacht hatten: Der Potala war nicht von dieser Welt.
Noch vor fünf Jahren hätte er Lhasa besuchen können und das Gebäude so gesehen wie vermutlich die meisten Touristen: als ein steinernes Schloß, dessen beeindruckende Wirkung nicht nur auf Größe und Alter beruhte, sondern vornehmlich auf der historischen Bedeutung als buddhistischer Vatikan. Doch Shan hatte den Potala nicht vor fünf Jahren gesehen, und inzwischen konnte er ihn nur noch mit den Augen derjenigen betrachten, welche die Wintergeschichten erzählten.
Ein alter Priester - derselbe, der im Vorjahr zum Sterben hinaus in den Schnee gegangen war - hatte den Potala zum erstenmal im Jahr 1931 besucht, noch während der Amtszeit des Dreizehnten Dalai Lama, und dann noch einmal zwei Jahre später, als der salzgetrocknete Körper des alten Herrschers in einem Chorten aus massivem Silber im Roten Palast des Potala beerdigt wurde. Es war dieser Dreizehnte gewesen, der auf seinem Totenbett davor gewarnt hatte, daß allen Tibeter eine baldige Versklavung und eine endlos lange Zeit des Leidens bevorstünde. Später war dem Priester das große Glück widerfahren, zum Dienst in der Bibliothek des Potala eingeteilt zu werden. Dort befanden sich auch die originalen Konstruktionspläne des Großen Fünften Dalai Lama, der 1645 mit dem Bau des Potala begonnen hatte und später darum bat, man möge seinen Tod geheimhalten, damit die Arbeiten dadurch nicht unterbrochen würden. Der alte Yak hatte seinem ehrfürchtigen, zitternden Publikum bei der 404ten diese Pläne in allen Einzelheiten beschrieben. Reichverzierte Wände aus Stein, Zedern- und Teakholz, die ohne einen einzigen Nagel von Hand aneinandergefügt wurden, unterteilten dreizehn Etagen in mehr als tausend Räume, die einst die hundertfachen Schreine beherbergt hatten. Erst bei der dritten Wiederholung der Geschichte hatte Shan begriffen, daß diese Angabe nicht rein symbolisch gemeint war. Der Palast des Großen Fünften für Buddha enthielt hundert mal hundert Schreine, insgesamt also zehntausend Altäre, auf denen wiederum zweihunderttausend Statuen von Gottheiten standen. Als Shan zu den riesigen Mauern emporblickte, fiel ihm wieder ein, daß der Mönch ihnen erzählt hatte, sie seien für die Ewigkeit errichtet worden. Vielleicht hatte er recht - Shan hatte später erfahren, daß man die Außenmauern, die an einigen Stellen bis zu neun Meter dick waren, mit geschmolzenem Kupfer ausgegossen hatte, damit sie die Zeitalter überdauern würden.