Sehr viel später, im tibetischen Jahr der Erdmaus, 1949, hatte Choje dieselbe Bibliothek besucht. Er hatte dort siebentausend Bände mit Schriften gesehen, die meisten davon unikale Manuskripte, die viele Jahrhunderte zurückreichten. Einige, so erklärte er mit fast kindlicher Ehrfurcht, waren auf Palmblätter geschrieben, die man tausend Jahre zuvor aus Indien mitgebracht hatte. Eine besondere Sammlung illustrierter Manuskripte, die Choje zehn Monate lang studieren durfte, umfaßte zweitausend Bände, deren Texte in verschiedenfarbigen Tinten niedergeschrieben waren, die man aus pulverisiertem Gold, Silber, Kupfer, Türkis, Korallen und Muschelschalen hergestellt hatte. Als die Roten Garden den Potala während der Kulturrevolution stürmten, hätte nichts die Vier Alten besser symbolisieren können als diese Manuskripte. Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Tempelgelände hatte man die Bände zerstört. Viele wurden in kleine Stücke gerissen und zur weiteren Verwendung in die Latrinen der Roten Garden transportiert.
Rebecca Fowlers Hand auf seinem Arm holte Shan in die Gegenwart zurück. »Tyler sollte gehen«, wiederholte sie.
»Ist ein Kinderspiel«, pflichtete Kincaid ihr bei. Seine Augen funkelten übermütig. »Ich bin schon öfter im Landwirtschaftsministerium gewesen. Vermutlich werden die Leute dort mich wiedererkennen. Kotau vor dem großen amerikanischen Investor.«
Shan nickte zögernd, stand dann auf und reichte Fowler die Leinentasche, die er mitgebracht hatte. »Geben Sie das Ihrem Freund Jansen.«
»Was ist das?«
»Aus der Höhle. Einer der goldenen Schädel. Ich habe darum gebeten, mir einen als Beweisstück zu überlassen.«
Kincaid sah ihn unsicher an.
»Ich habe nicht gesagt, wofür er als Beweis dienen soll«, fuhr Shan fort.
Kincaid riß die Augen auf. »Was für ein Schlitzohr«, sagte er lachend. Er nahm die Tasche entgegen und schaute hinein.
Shan zog einen Umschlag hervor. »Das sind die Lebensläufe von Direktor Hus geologischer Erkundungstruppe. Ich dachte, die könnten vielleicht von Interesse sein.«
»Lebensläufe?« fragte Kincaid.
»Hu hat acht Leute, deren Aufgabe dann besteht, neue Mineralvorkommen aufzuspüren. Sechs der Männer wurden auf Bitte Hus letztes Jahr von Wen Li an ihn überstellt.«
»Aber Wen gehört zum Büro für Religiöse Angelegenheiten.«
Shan nickte. »Die sechs haben keinerlei geologische Ausbildung. Es sind Archäologen und Anthropologen.«
Kincaid starrte verwirrt den Umschlag an. Dann schien er zu verstehen. »Seine angeblichen Mineralvorkommen - es dreht sich alles nur um Plünderungen. Er ist gar nicht auf der Suche nach Minen«, rief er Fowler zu, »er sucht nach Höhlen! Schädelhöhlen. Warte nur ab, bis Jansen das zu sehen bekommt!« Mit breitem Grinsen packte er Shans Hand und schüttelte sie heftig. »Passen Sie auf sich auf, Mann«, sagte er unbeholfen. Er warf einen kurzen Blick auf Fowlers amüsiertes Gesicht und wandte sich dann wieder an Shan. »Wirklich. Ich meine es ernst.«
Der Amerikaner hielt inne, griff mit feierlicher Geste in sein Hemd und zog ein weißes Stück Stoff hervor, das darunter verborgen gewesen war. Es war eine seidene khata, ein Gebetsschal. Der Amerikaner hatte sie um den Hals getragen. »Hier«, sagte Kincaid. »Das ist mein Glücksbringer. Er soll dafür sorgen, daß ich lebend von meinen Klettertouren zurückkomme.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Shan unangenehm berührt. »Das ist kein...«
»Bitte«, erwiderte Kincaid hartnäckig. »Ich möchte, daß Sie ihn nehmen. Als Schutz. Ich will nicht, daß Sie erwischt werden.
Sie sind einer von uns.«
Shan errötete verlegen und nahm die khata. Dann reihte er sich in den Strom der Passanten ein und hoffte inständig, der abgetragene Armeemantel, den er aus Lhadrung mitgebracht hatte, würde jeden zufälligen Betrachter davon überzeugen, daß es sich bei ihm lediglich um einen versprengten Soldaten handelte, der per Anhalter hergekommen war.
Doch als er in Richtung Stadtzentrum um die Ecke bog, lag wieder die Erhabene Festung vor ihm. Lokesh war früher auch dort gewesen, erinnerte Shan sich, zunächst als junger Student, dem wegen seiner hervorragenden Noten die Ehre zuteil wurde, das getrocknete Kerzenwachs von den Altären des Potala abkratzen zu dürfen. Die Erinnerungen an jenen ersten Besuch, der vollständig in der Dunkelheit der unteren Etagen stattfand, waren fast allesamt akustischer Natur. Lokesh erzählte, daß er zwar ständig den Klang der tsingha-Zimbeln gehört habe, doch während seines einmonatigen Aufenthalts kein einziges Mal in der Lage gewesen sei, im Labyrinth der Räume den Ursprung des Geräusches ausfindig zu machen. Zu Beginn besonderer Rituale wurden die hohen jaling-Hörner geblasen, und die melodiösen vajre-Glocken riefen die Mönche zu den verschiedenen Gottesdiensten, von denen in dem riesigen Gebäudekomplex alle paar Minuten ein neuer anzufangen schien. Schließlich hatte es noch die dreieinhalb Meter langen dungchen-Hörner gegeben, deren Klang so tief war, daß er wie ein Stöhnen der Erde wirkte, und derart widerhallend, daß Lokesh nachdrücklich versicherte, das Echo sei noch Stunden später durch die unteren Etagen gewandert.
Als Shan sich dem Museum näherte, verspürte er ein Kribbeln auf der Haut. Langsam umrundete er das Gebäude zweimal. Beim ersten Mal verharrte er in einer Menschenmenge, die bei einem Schachspiel zuschaute, nach dem zweiten Durchgang reihte er sich in die Warteschlange an einer Bushaltestelle ein. Der Mann, der ihm folgte, war ein sehr kleiner Tibeter in einer blauen Arbeiterjacke und mit einem Kohlkopf in der Hand. Seine langen, gelenkigen Arme und der scharfe, ruhelose Blick straften seinen langsamen, gebeugten Gang Lügen. Shan testete den Beschatter, indem er schnellen Schritts drei Blocks weit die Straße entlangeilte und sich dann auf eine Bank setzte. Der Mann folgte ihm auf der anderen Straßenseite und blieb an einem Gemüsestand stehen, als Shan vorgab, in einer Zeitung zu lesen, die er aus einem Abfalleimer gezogen hatte. Shan wartete so lange, bis er sich davon überzeugt hatte, daß der Mann allein war. Die Beschattungsteams der Öffentlichen Sicherheit bestanden zumeist aus mindestens drei Personen.
Shan machte sich Vorwürfe, weil er nicht auf den Gedanken gekommen war, Jansens Büro könnte überwacht werden. Er fand einen öffentlichen Waschraum und ließ den Mantel dort zurück. Draußen stieg er in einen Bus, den er bei der nächsten Station wieder verließ. Er wechselte in einen anderen Bus und behielt sein Umfeld mit den Ohren im Blick, wie einer seiner Ausbilder in Peking es einst formuliert hatte. Es bedeutete, daß er mit allen Sinnen lauschte, um den Rhythmus der Menge in sich aufzunehmen und sofort erkennen zu können, wann und wo sich eine Änderung einstellte. Zugleich achtete er darauf, wie die Leute einander ansahen. Er mußte sich vor denen in acht nehmen, welche die anderen ignorierten.
Nach sechs Blocks trat er wieder ins Sonnenlicht hinaus und machte sich zu Fuß auf den Rückweg zum Museum, allerdings nicht auf direktem Weg, sondern auf einer Parallelstraße und nach wie vor überaus vorsichtig.