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Plötzlich gab es hinter ihm einen lauten Knall wie von einer Pistole. Shan fuhr herum und erstarrte. Dort, keine drei Meter von ihm entfernt und mitten zwischen all den chinesischen Passanten und den zahllosen Fahrrädern, stand ein zerlumpter, ungepflegter Tibeter, der über einem Filzmantel eine dreckige Lederschürze trug. Seine Hände steckten in den Riemen zweier Holzklötze, die er nun über dem Kopf zusammenschlug. Jemand neben Shan, eine dicke Chinesin, die einen Topf Joghurt trug, bedachte den Mann mit einem Schimpfwort. »Latseng!« sagte sie. Abschaum.

Doch der Tibeter schien niemanden auf der belebten Straße wahrzunehmen und verließ den Bürgersteig. Mit einer flüssigen Bewegung brachte er die Holzklötze nach unten und streckte sich mit vorgereckten Armen in voller Länge auf der Fahrbahn aus. Er murmelte ein Mantra, zog sich voran, kam wieder auf die Knie, stand auf, schlug die Klötze zunächst zweimal vor sich und dann einmal über dem Kopf zusammen und fing wieder von vorn an. Shan erinnerte sich daran, daß Pilger den Potala traditionell auf einer acht Kilometer langen Route dreimal umrundeten. Aber er wußte auch, daß die Regierung den größten Teil der Pilgerstrecke, die als Lingkhor bekannt war, zerstört hatte, indem sie quer dazu Wohnhäuser und Geschäfte errichten ließ, um den Weg zu blockieren, nachdem einige Mönche die Tibeter aufgefordert hatten, ihrem Protest gegen die chinesische Regierung dadurch Ausdruck zu verleihen, daß sie rund um den Potala eine endlose Kette von Pilgern bildeten.

Shan wurde abermals von seinen Gefühlen übermannt und starrte den Tibeter hilflos an, der unbeirrt nach vorn blickte. Trinle hatte herzlich darüber gelacht, daß die Route blockiert worden war. »Die Regierung wird nie in der Lage sein, das zu sehen, was der Pilger sieht«, hatte er im Brustton der Überzeugung gesagt. Er hatte den Satz für Shan wie ein Mantra immerzu wiederholt und dabei breit gegrinst, bis auch Shan in Gelächter ausgebrochen war, ohne zu wissen warum.

Auf der Straße schrie jemand wütend auf. Ein Jugendlicher auf einem Motorrad brüllte den Pilger an, er solle den Weg freimachen. Hinter dem Mann hielt ein Wagen und begann zu hupen. Der Pilger gelangte unterdessen an eine Kreuzung, ohne der roten Ampel auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Auf der Querstraße näherte sich ein Lastwagen und fügte den Lärm seines Signalhorns dem allgemeinen Aufruhr hinzu.

Manchmal wurden Pilger überfahren. Shan hatte gehört, wie die Wachen bei der 404ten über solche Todesfälle gespottet hatten. Der Pilger blieb in Bewegung, doch im Blick des Mannes lag eine neue Empfindung. Er hatte die Fahrzeuge inzwischen bemerkt. Er hatte Angst, aber er würde nicht innehalten.

Shan drehte sich zu der Menge um. War da jemand? Nein. Aber nahm er den Rhythmus der Menge überhaupt noch wahr? Nein. Er warf einen langen Blick auf die Erhabene Festung und trat auf die Straße.

Er ging vorbei an den wütenden Fahrern, die nach wie vor ein Hupkonzert aufführten, bis er neben dem einsamen Pilger stand. Mit winzigen Schritten blieb er neben dem Tibeter, während der Mann sich über die Kreuzung mühte. Auf die Knie. Auf die Füße. Arme vorstrecken. Klötze zusammenschlagen. Arme über den Kopf. Klötze zusammenschlagen. Arme nach unten. Innehalten. Knien. Bäuchlings niederwerfen. Arme ausstrecken. Das Mantra zur Anrufung des mitfühlenden Buddhas aufsagen. Sich an den Armen vorziehen. Auf die Knie.

Die Leute riefen immer lauter. Inzwischen waren sie auch auf Shan wütend. Aber er hörte die Worte nicht. Er musterte den Pilger mit großer Zufriedenheit und sah in dem Mann Choje und Trinle und all die alten Yaks vor sich. Ein seltsamer Gedanke durchfuhr ihn. Dies war vielleicht das Wichtigste, was er in den letzten drei Jahren getan hatte. Choje hätte jetzt womöglich darauf hingewiesen, daß alles, was vorher geschehen war, sich nur deshalb ereignet hatte, damit Shan in jenem Moment dort sein und den Pilger beschützen konnte.

Sie erreichten den Randstein und die Sicherheit des Bürgersteigs. Ohne aus dem Takt zu kommen oder auch nur den Blick abzuwenden, flüsterte der Pilger mit ergriffener, verunsicherter Stimme Shan ein einziges Wort zu: »Tujaychay.« Danke.

Shan sah dem Mann dabei zu, wie er die nächsten zehn Meter zurücklegte, bevor ihm klar wurde, was er ursprünglich vorgehabt hatte. Er blickte auf und bemerkte, daß es ihm keinesfalls mehr gelingen würde, wieder in den Rhythmus der Menge einzutauchen. Mittlerweile starrten ihn zwanzig Gesichter an, die meisten davon voller Wut. Es blieb keine Zeit mehr, um vorsichtig zu sein und eventuelle Verfolger abzuhängen. Er ging direkt zum Museum.

Zusammen mit einer Reisegruppe trat er ein und bewegte sich dann im Schutz der Menge zwischen den Exponaten hindurch. Er mußte sich regelrecht dazu zwingen, nicht bei den prächtigen Vitrinen zu verweilen, den Schädeltrommeln, rituellen Jadeschwertern, Altarstatuen, kostbaren thangka-Gemälden, Kammhauben und Gebetsmühlen. Nur einmal blieb er stehen, und zwar vor einem Schaukasten mit seltenen Rosenkränzen. Dort in der Mitte lag einer, dessen Perlen aus rosafarbener Koralle bestanden und wie winzige Kiefernzapfen geschnitzt waren, mit Anzeigerperlen aus Lapislazuli. Traurig starrte Shan ihn an, schrieb sich dann die Inventarnummer auf und ging weiter.

Plötzlich erreichte er die Ausstellung mit Kostümen der Schutzdämonen. Da war Yama, der Herr der Toten, Yamantaka, der Bezwinger des Todes, Mahakala, der Oberste Beschützer des Glaubens, Lhamo, die Schutzgöttin von Lhasa. Und im letzten Schaukasten Tamdin der Pferdeköpfige.

Das herrliche Kostüm war da, sein Gesicht eine grausame gewölbte Maske aus rotlackiertem Holz mit vier Fangzähnen im Maul. Um den Hals hing eine Kette aus Schädeln, über dem goldenen Haar erhob sich ein kleiner, wilder grüner Pferdekopf. Shan erschauderte bei dem Anblick, und seine Hand schloß sich um das gau, das um seinen Hals hing und in dem sich jetzt der Zauberspruch zur Beschwörung Tamdins befand. Die Arme des Dämons lagen neben der Maske und endeten in zwei grotesk proportionierten Klauen, die mit der zerschmetterten Hand übereinstimmten, welche man bei der amerikanischen Mine gefunden hatte.

Die Bestätigung, daß es sich tatsächlich um die Hand Tamdins handelte, war nur ein schwacher Trost, denn das Kostüm im Museum war vollständig und zudem in Lhasa, nicht in Lhadrung. Es gab demnach ein zweites Kostüm, aber falls es nicht zum Museum gehörte, verfügte Shan über keine Möglichkeit, es zurückzuverfolgen und mit Jaos Mördern in Verbindung zu bringen.

Nachdenklich musterte er die Ausstellungsstücke und wartete, bis der Raum sich geleert hatte. Dann öffnete er eine Tür. Ein Schrank mit Putzmitteln. Er wollte die Tür schon wieder schließen, besann sich dann aber eines anderen und nahm den Besen und einen Eimer heraus. Langsam bewegte er sich durch das Gebäude, fegte den Boden und achtete dabei auf die Innentüren. Plötzlich sah er eine neue Gestalt, und sein Magen zog sich zusammen; es war ein Chinese mit stechendem Blick, der sich ziemlich vergeblich darum bemühte, den Eindruck zu erwecken, er würde sich für die Exponate interessieren. Der Mann sah sich im Raum um, ohne von Shan Notiz zu nehmen. Dann schnaubte er ungeduldig und ging mit militärisch gerader Haltung in den angrenzenden Flur. Shan blieb im Schatten und beobachtete zu seinem Entsetzen, daß der Mann sich mit zwei anderen beriet, einer jungen Frau und einem Mann, die wie Touristen gekleidet waren. Die drei machten sich hastig auf den Weg, und Shan verschwand hinter der ersten Tür, die nicht abgeschlossen war.

Er befand sich in einem kurzen Korridor, der zu einem Großraumbüro führte, das in zahlreiche Arbeitskabinen unterteilt war. Die meisten der Tische waren nicht besetzt, und auf einer Bank im Gang lag ein weißer Technikerkittel. Shan ließ Besen und Eimer zurück und zog den Kittel an. Vom ersten der Tische nahm er ein Klemmbrett und einen Bleistift mit.

»Ich habe mich ein wenig verlaufen«, sagte er zu der Frau am ersten besetzten Tisch. »Das Inventar.«