»Inventar?«
»Exponate. Eingelagerte Artefakte.«
»Die sind normalerweise identisch«, erwiderte sie in überheblichem Tonfall.
»Identisch?«
»Sie wissen schon. Zwei Exemplare von jedem Stück, eins davon in der Ausstellung, das andere im Lager. Im Keller. Der Direktor nennt es Parallelsammlung. Dadurch wird es einfacher, die Stücke zu reinigen und zu untersuchen. Eins oben, eins unten, einsortiert nach ihren Inventarnummern.«
»Natürlich«, entgegnete Shan mit neuerlicher Hoffnung. »Ich habe die Bestandskartei gemeint, die über den Standort der Artefakte Aufschluß gibt.«
»In den großen Ordnern, auf dem Tisch in der Bibliothek.«
In der kleinen Bibliothek am Ende des Korridors fand er eine dicke schwarze Akte, deren Kunststoffbeschichtung an den Kanten bereits bis auf die Pappe abgenutzt war. Er hatte den Abschnitt Kostüme schon gefunden, als eine ältere Frau an der Tür auftauchte.
»Was haben Sie denn hier verloren?« rief sie.
Shan zuckte zusammen und lehnte sich dann auf dem Stuhl zurück, bevor er sie ansah. »Ich komme aus Peking.«
Diese Behauptung verschaffte ihm weitere dreißig Sekunden. Er suchte weiter, während die Frau in der Türöffnung verharrte. Zeremonieller Kopfschmuck. Kostüme der Dämonentänzer.
»Wieso hat mich niemand davon unterrichtet?« fragte die Frau mißtrauisch.
»Genossin, Sie werden doch sicher verstehen, daß Buchprüfungen nicht annähernd effektiv verlaufen, wenn man sie vorher ankündigt«, sagte Shan schroff.
Als sie Shans Kleidung bemerkte, stieß sie deutlich hörbar die Luft aus. »Wir benötigen Ihre Legitimation, Genosse.«
Shan blickte weiterhin in die Bücher. »Die sollten wir am Eingang zurücklassen. Wir haben ziemlich viel zu tun.« Er wies auf einen Stuhl. »Vielleicht möchten Sie uns ja behilflich sein.«
Die Frau fuhr herum und verschwand den Flur hinunter.
Tamdin, stand in dem Buch, Code 4989. Exemplar Eins aus dem Kloster Shigatse, 1959. Exemplar Zwei aus Saskya gompa, vor gerade mal vierzehn Monaten. Shan eilte auf den Gang hinaus und überprüfte abermals die Türen. Beim dritten Versuch stieß er auf eine Treppe, die nach unten führte.
Die Regale im Keller reichten vom Boden bis zur Decke und waren mit Holzkisten, Weidenkörben und Pappkartons vollgestopft. Die Exponate waren nach den Inventarnummern sortiert, ganz wie das Mädchen gesagt hatte. Shan lief die Reihen entlang und überflog die Ziffern am Ende eines jeden Regals. Plötzlich hörte er ein neues Geräusch, den unverkennbaren Klang von mehreren rennenden Personen in der Etage über ihm.
Er fand die 3000er Nummern und lief weiter. Dann die 4000er. Shan zog eine Kiste aus dem Regal. Sie enthielt ein Räucherfaß. Er begann zu rennen und fiel auf die Knie. Von oben ertönten aufgeregte Rufe. Er fand ein Regal, auf dem die Zahl 4900 vermerkt war. Aus einer Kiste ragten zwei goldene Hörner. Die Maske von Yama. Hektisch überprüfte er die anderen Kisten. Inzwischen hatten die Leute die Treppe erreicht und kamen laut rufend nach unten. Eine weitere Reihe Lampen wurde eingeschaltet. Es wurde deutlich heller. Dann hatte er es gefunden. Tamdin, stand auf der Kiste. Tamdin, Dämonenkostüm, Kloster Saskya. Sie war leer.
Ganz in der Nähe schrie jemand. Auf dem Deckel der Kiste klebte eine weiße Karteikarte. Shan riß sie ab und lief weiter. Vor sich entdeckte er eine kurze Treppe, die an einer Tür endete, unter der Tageslicht hereinschien.
Die Tür war abgeschlossen. Er warf sich mit der Schulter dagegen, und das alte Holz splitterte. Er stürzte hinaus und fiel zu Boden. Während er noch dalag und ins gleißende Sonnenlicht blinzelte, rammte jemand ihm einen Stiefel ins Genick, beugte sich dann herunter und legte ihm Handschellen an.
Shan wollte gerade lautstark protestieren, als ihn ein Schlagstock an der Stirn traf. »Halt's Maul«, herrschte der Fremde ihn an und sprach dann in ein Handfunkgerät.
Da ihm Blut in die Augen lief, konnte er nicht erkennen, wie viele es waren. Sie gehörten zweifellos zur Öffentlichen Sicherheit, aber sie schienen verwirrt zu sein. Als man ihn in einen grauen Häftlingstransporter stieß, konnte er hören, wie hinter ihm Streit darüber aufkam, wessen Gefangener er war und wohin er gebracht werden sollte. Die ersten beiden Männer benutzten keine Ortsnamen. »Das lange Bett«, sagte einer. »Drähte«, behauptete ein anderer. Doch ein dritter Mann gesellte sich zu ihnen. »Drabchi«, sagte er im Befehlston. Damit war das berüchtigte politische Gefängnis nordöstlich von Lhasa gemeint, das offiziell Gefängnis Nummer Eins hieß. Früher hatte man dort die hochrangigen Beamten der tibetischen Regierung untergebracht.
Es war vorbei. Sungpo würde sterben. Shan würde neue Wärter bekommen. Falls Tan ihn nicht im Stich ließ, würde er irgendwann vielleicht zur 404ten zurückkehren, nachdem man seine Strafe um fünf oder zehn Jahre verlängert hatte, aber zunächst würde die Öffentliche Sicherheit ihn verhören, was einen nachfolgenden Krankenhausaufenthalt bedeutete. Wer würde wohl damit beauftragt werden, die Enttäuschung des Volkes über seine sozialistische Entwicklung zum Ausdruck zu bringen? fragte er sich in einem entlegenen Winkel seines Verstandes. Ich bin ein Held, würde Shan zu seinen Häschern sagen. Ich habe zwölf Tage draußen ausgehalten.
Das Blut floß ihm in den Mund, und der Schmerz der Verletzung wurde langsam stärker als der Schock. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Eine quälend laute Sirene wurde eingeschaltet. Sie waren auf einer Schnellstraße und beschleunigten. Er verlor das Bewußtsein. Plötzlich schrie jemand auf, und er hörte das Geräusch von splitterndem Holz und verschreckt kreischenden Hühnern. Der Transporter kam mit einer Vollbremsung zum Stehen. Shan hörte, wie die Männer aus dem Führerhaus stiegen.
Von vorn erklangen wütende Schreie. Dann stieg jemand auf den Fahrersitz, und der Transporter drehte um hundertachtzig Grad. Die Sirene wurde abrupt ausgeschaltet, und das Fahrzeug vollführte eine Reihe schneller Kurven. Dann hielt der Wagen plötzlich an. Die hinteren Türen wurden aufgerissen, und vier Hände griffen nach ihm. Halb trugen, halb zerrten sie ihn auf die Rückbank eines anderen Wagens, der sofort losfuhr.
Langsam, fast wie im Traum, wischte Shan sich das Blut aus den Augen und zog sich hoch. Es war ein großer Wagen, eine ältere amerikanische Limousine. Der Fahrer trug eine Wollmütze. Als sie auf die breite Durchgangsstraße einbogen, die aus der Stadt führte, streckte der Mann ihm einen kleinen Schlüssel über die Schulter nach hinten. Während Shan die Handschellen aufschloß, nahm der Mann die Mütze ab, so daß sein dichter blonder Schopf sichtbar wurde.
»Ich wußte gar nicht...«, setzte Shan an, der vor Verwirrung wie gelähmt war. Er zog die Hemdschöße heraus, um sich damit das Gesicht abzuwischen. »Danke«, sagte er auf englisch. »Sind Sie Jansen?«
Der Mann schüttelte den Kopf und murmelte etwas in einer skandinavischen Sprache vor sich hin, während er langsam dem Verkehrsstrom folgte und sorgfältig darauf achtete, kein Aufsehen zu erregen. »Keine Namen«, erwiderte er, ebenfalls auf englisch. »Bitte. Keine Namen.« Shan bemerkte, daß neben ihm auf dem Boden die Tasche lag, die Shan nach Lhasa mitgebracht hatte. Der Schädel aus dem Höhlenschrein.
»Wie konnten Sie Bescheid wissen?« fragte Shan fünf Minuten später.
Jansen hatte bedrückt geschwiegen. »Ich bringe Sie bloß irgendwo zur Bundesstraße. Ihre Freunde werden dort warten, haben sie gesagt.«
»Warum?«
»Warum?« Jansen hieb wütend auf das Lenkrad. »Glauben Sie, ich wäre dieses Risiko eingegangen, wenn ich vorher Bescheid gewußt hätte? Mit mehr Kriechern in der Gegend als Fliegen auf einem Haufen Scheiße? Niemand hat etwas von den Kriechern gesagt. Man hat mich bloß gebeten, dort zu sein, das ist alles. Um dem Gentleman zu helfen, der all die Informationen aus Lhadrung gebracht hat.« Er schüttelte den Kopf. »So etwas ist noch nie passiert. Hilf uns bei den Unterlagen, kein Problem. Nimm einen alten Mann aus Shigatse im Wagen mit, kein Problem. Aber das hier...« Er riß eine Hand hoch.