Kincaid sah den Schal in Shans Hand und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Behalten Sie ihn«, sagte er bewundernd und schob die khata zurück. »Wenn Sie nach Lhadrung zurückkehren, werden Sie ihn brauchen.«
Kapitel 17
Oberst Tan schien die Nachrichten von Miss Lihua und Madame Ko gleichzeitig zu lesen. Seine Augen sprangen zwischen dem Blatt in seiner Hand und dem Zettel auf seinem Tisch hin und her. In dem Fax aus Hongkong teilte Miss Lihua ihnen mit, daß sie sich dringend um einen Rückflug bemühe, in der Zwischenzeit jedoch schon vorab bestätigen wolle, daß Ankläger Jaos persönliches Siegel in der Tat letztes Jahr verschwunden sei. Man habe niemanden wegen des Diebstahls verhaftet, obwohl genau diese Art von kleinerem Sabotageakt typisch für Mönche und andere kulturelle Unruhestifter gewesen sei. Man habe ein neues Siegel anfertigen lassen und lediglich Jaos Bank verständigt.
Madame Kos Notiz besagte, daß sie Erkundigungen beim Landwirtschaftsministerium in Peking eingezogen habe. Es sei ihr gelungen, einen Mann namens Deng ausfindig zu machen, der für die Verwaltung der Wasserrechte zuständig sei. Deng wußte, wer Ankläger Jao war; sie hätten in der Woche vor Jaos Tod miteinander telefoniert, erklärte Madame Ko. Außerdem sei Deng mit dem Ankläger während Jaos Zwischenstop in Peking verabredet gewesen, und zwar in einem Restaurant namens Bambusbrücke.
»Also hat einer der Mönche Jaos Siegel gestohlen und sich das Kostüm verschafft. Vielleicht Sungpo, vielleicht auch einer der vier anderen«, behauptete Tan.
»Wieso sein persönliches Siegel?« fragte Shan. »Falls ich all diese Mühe auf mich nehmen würde, um Verwirrung in der Regierung zu säen, weshalb sollte ich dann nicht lieber sein offizielles Siegel stehlen?«
»Zufall. Ein Mönch hat eine Gelegenheit gewittert und ist ins Büro eingebrochen. Vielleicht stand eine Tür oder ein Fenster offen, und das erste, was er gefunden hat, war das persönliche Siegel. Er hat Angst bekommen und ist abgehauen. Miss Lihua sagt, es war ein Mönch.«
»Das glaube ich kaum. Aber darum geht es auch gar nicht.« Shan ertappte sich dabei, wie er aus dem Fenster auf die Straße starrte und halb damit rechnete, einen Lastwagen voller Kriecher eintreffen zu sehen, die ihn verhaften wollten. Doch dort stand nur der leere Wagen des Offiziers, mit dem er in die Stadt gefahren war. Die Kriecher in Lhasa hatten gewußt, wer er war. Doch jetzt kamen sie nicht, um ihn zu holen. Wie hatten ihre Befehle gelautet? Sollten sie ihn einfach nur aus Lhasa vertreiben? Oder wollte man ihn eliminieren, falls es nur irgendwie gelang, ihn außerhalb von Tans Reichweite in die Finger zu bekommen?
»Was meinst du damit?«
Shan drehte sich wieder zu Tan um. »Wichtig daran ist, daß der Direktor für Religiöse Angelegenheiten in diesem Punkt gelogen hat. Er hat uns erzählt, die Kostüme befänden sich alle an ihrem Platz. Er hat behauptet, er hätte es überprüft.«
»Vielleicht hat ihn jemand aus dem Museum mit falschen Informationen versorgt«, schlug Tan vor.
»Nein. Madame Ko hat heute morgen nachgefragt. Niemand hat je wegen der Kostüme im Museum angerufen.«
»Aber Jao hätte niemals angeordnet, daß das Kostüm von Lhasa zurück nach Lhadrung geschickt werden soll. Es hätte gar keinen Grund dafür gegeben«, sagte Tan vorsichtig.
»Haben Sie je davon gehört, sein Siegel sei gestohlen worden? Es müßte einen Ankläger doch sehr beunruhigen, wenn er sein Siegel verliert. Und der Militärkommandant sollte eigentlich davon unterrichtet werden.«
»Es war doch nur sein persönliches Siegel.«
»Ich glaube, daß jemand hier in Lhadrung Zugang zu seinem persönlichen Siegel hatte und es dazu benutzt hat, die Karte abzustempeln, die später auf die Museumskiste geklebt wurde.«
»Du willst sagen, daß Miss Lihua lügt?«
»Wir brauchen sie hier vor Ort.«
»Du hast ihre Nachricht gesehen. Sie ist unterwegs.« Als Tan das Fax auf den Tisch legte, bemerkten sie beide, daß Madame Ko aufgeregt an der Tür stand. Sie war zwar nicht hinzugebeten worden, aber offenbar war sie auch nicht gewillt, wieder zu gehen. Sie hob die Faust zu einer kurzen Siegesgeste. Der Oberst seufzte und bedeutete ihr, sie möge eintreten.
»Jao wollte sich also mit diesem Deng in Peking treffen. Weshalb?« fragte Tan.
»Um Erkundigungen über die Wasserrechte in Lhadrung einzuholen«, berichtete Madame Ko. »Jao wollte wissen, wer diese Rechte vor den Amerikanern innehatte.«
»Und was ist nun mit Genosse Deng vom Landwirtschaftsministerium? Hatte er die Antwort?«
»Alle Unterlagen befanden sich noch immer in den Kisten aus Lhasa. Darum war er auch so unglücklich darüber, daß Jao nie eingetroffen ist. Er sagt, er habe Stunden gebraucht, um sich hindurchzuwühlen.«
»Und all das hat er für irgendeinen Fremden aus Tibet gemacht?«
Madame Ko nickte. »Genosse Jao hat gesagt, falls sie das feststellen würden, womit er rechnete, würde er mit Deng sofort in die Zentrale des Justizministeriums gehen wollen. Ein großer Fall, hat er gesagt. Deng würde dem Minister persönlich empfohlen werden.«
Tan rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. »Vermutlich hat es sich um eines der Landwirtschaftskollektive gehandelt«, sagte er.
»Genau«, bestätigte Madame Ko.
»Sie haben ihn gefragt?«
»Aber sicher. Das ist doch ein Teil unserer Ermittlungen«, sagte sie und bedachte Shan mit einem kleinen verschwörerischen Nicken.
Der Oberst warf Shan einen ungeduldigen Blick zu. »Und?«
»Das Kollektiv der Langen Mauer.«
Tan bat um Tee. »Sie benimmt sich, als hätte sie soeben unseren Fall gelöst«, seufzte er, nachdem Madame Ko ganz aufgeregt aus dem Raum geeilt war.
»Vielleicht hat sie das auch«, sagte Shan.
»Ist dieses Kollektiv der Langen Mauer irgendwie von Bedeutung?«
»Erinnern Sie sich noch an Jin San, eines der Mordopfer?«
»Jao hat einen der Fünf von Lhadrung wegen dieses Mordes angeklagt.«
»Und im Verlauf der Untersuchung herausgefunden, daß Jin San einen Drogenring geleitet hat.«
»Den wir daraufhin ausgeschaltet haben.«
»Vielleicht ist Ihnen entfallen, daß Jin San der Leiter des Landwirtschaftskollektivs der Langen Mauer gewesen ist.«
Der Oberst zündete sich eine Zigarette an und schaute in die Glut. »Ich will, daß Miss Lihua hier auftaucht«, rief er plötzlich in Richtung der offenen Tür. »Schicken Sie ihr ein Militärflugzeug, falls nötig.«
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und wandte sich an Shan. »Dieser Opiumbetrieb ist erledigt. Nach Jin Sans Tod ist alles auseinandergebrochen. Der Drogenhandel in Lhadrung hat aufgehört. In der Klinik sind schon lange keine Süchtigen mehr aufgetaucht. Ich wurde in dieser Angelegenheit sogar offiziell belobigt.«
Shan breitete die Fotokarten aus, auf denen das fragliche Lizenzgebiet abgebildet war; die gleichen Karten, die auch Jao gesehen hatte. »Können Sie diese Art von Fotos lesen?«
Tan ging zu seinem Schreibtisch und holte eine große Lupe. »Ich habe eine Raketenbasis befehligt«, brummte er.
»Yeshe hat sich die Karten gestern angesehen. Die neue Straße. Die Mine. Das zusätzliche Lizenzgebiet im Nordwesten. Eines hat er nicht verstanden. So hat dieses Gebiet in vier aufeinanderfolgenden Monaten ausgesehen.« Shan wies auf die erste Karte. »Winter. Schnee. Felsen und Schlamm. Vom Rest des Terrains nicht zu unterscheiden.«
Er zog es vor, nichts von Yeshes anderer Entdeckung zu berichten. Auf den Computerdisketten, die Fowler mitgenommen hatte, waren tatsächlich Bestandslisten gespeichert gewesen. Die Hälfte der Dateien in chinesischer Sprache hatte mit den englischen Datensätzen übereingestimmt. Doch die restlichen Dateien waren Auflistungen von Munitionsdepots, Soldaten und sogar Raketenstützpunkten in Tibet. Yeshes Hände hatten gezittert, als er Shan die Disketten übergab. Gemeinsam hatten sie die Datenträger zum Versorgungsgebäude des Lagers Jadefrühling gebracht und dort im Heizkessel verbrannt. Keine Sekunde lang hatte Shan geglaubt, die Daten auf den Disketten könnten echt sein. Doch Yeshe und er wußten beide, daß dies kaum einen Unterschied bedeutete. Die Öffentliche Sicherheit würde sich nur schwerlich mit solchen Spitzfindigkeiten aufhalten, falls man einen Zivilisten mit den Daten erwischte. Als er in die Flammen des Heizkessels starrte, hatte Yeshe ihn um die Erlaubnis gebeten, zur 404ten gehen zu dürfen. Die Zivilisten versammelten sich, hatte er gesagt.