»Nicht ganz«, stellte Tan fest und nahm die Lupe zu Hilfe. »Da sind Terrassen. Vermutlich sehr alt. Aber man kann noch Spuren davon erkennen. Schwache Schattenlinien.«
»Genau. Jetzt dieselbe Gegend einen Monat später.« Shan wechselte zur nächsten Karte. »Die Hänge sind jetzt grün, wenn auch nur ein wenig. Immerhin deutlich grüner als der Rest der Berge.«
»Wasser. Das bedeutet nur, daß sich auf den Terrassen nach wie vor das Wasser sammelt«, sagte Tan.
»Aber noch einen Monat später. Sehen Sie nur. Die Farbe ist inkonsistent. Ein Hauch von Rosa und Rot.«
Schweigend beugte Tan sich über die Karte und nahm sie mit der Lupe aus mehreren Winkeln in Augenschein. »Bei der Entwicklung der Bilder gibt es manchmal Anomalien. Die Chemikalien erschaffen falsche Farben. Das gilt sogar für die Lupe. Sie reagiert nicht immer ganz exakt auf das Licht.«
»Ich glaube, daß die Farben stimmen.« Shan legte die letzte Karte hin. »Vor sechs Wochen.«
»Und die Farben sind verschwunden«, stellte Tan fest. »Kein Unterschied zu den umliegenden Hängen. Wie ich schon sagte, ein Fehler bei der Entwicklung.«
»Aber die Terrassen sind ebenfalls verschwunden.«
Tan blickte verwirrt auf und beugte sich dann mit der Lupe über die Karte.
»Jemand baut noch immer Jin Sans Mohn an«, lautete Shans Schlußfolgerung.
Shan haßte Helikopter. Flugzeuge waren ihm schon immer wie ein Verstoß gegen die natürliche Ordnung der Dinge vorgekommen; Hubschrauber wirkten schlichtweg unmöglich.
Der junge Armeepilot, der sie aus dem Lager Jadefrühling abholte, tat wenig, um Shans Befürchtungen zu zerstreuen. Er glitt gleichbleibend in sechzig Metern Höhe über dem Boden, was zu einer Art Achterbahn-Effekt führte, als sie über die wogenden Hügel des oberen Tals hinwegschwebten. Auf Tans Befehl hin flog er eine scharfe Kurve und begann einen steilen Aufstieg. Zehn Minuten später hatten sie die Kammlinie überwunden und landeten auf einer kleinen Lichtung.
Die Terrassen waren alt, aber deutlich zu erkennen. Sie wurden durch Felsmauern gestützt, zwischen denen ein ausgefahrener Karrenpfad verlief. Die Frühjahrsernte war bereits eingebracht worden. Das einzige Zeichen für einen Bewuchs waren vereinzelte Unkrautstreifen, die sich durch einen Teppich aus abgestorbenen Mohnblättern aus den Terrassen erhoben.
»Die Steine.« Tan wies auf einen flachen Stein, dann auf noch einen und noch einen, die im regelmäßigen Abstand von drei Metern auf den Feldern lagen. Shan schob den nächstbesten beiseite. Darunter befand sich ein Loch von etwa acht Zentimetern Breite und mehr als einem halben Meter Tiefe. Tan trat gegen zwei weitere Steine. Sie alle bedeckten ähnliche Löcher.
Unter einem weit überhängenden Felsen entdeckte Tan einen Stapel schwerer hölzerner Stangen von knapp zweieinhalb Metern Länge. Er nahm eine davon zum nächsten Loch mit. Sie paßte genau. Im Schatten unter dem Felsen stieß Shan auf ein Seilende. Er zerrte vergeblich daran und rief dann Tan zu Hilfe. Mit vereinten Kräften zogen sie ein riesiges Stoffbündel hervor, das in das Seil gewickelt war. Nein, erkannte Shan sogleich, als Licht auf das Bündel fiel, das war kein Stoff. Es handelte sich um ein riesiges Tarnnetz des Militärs.
Ein Zuruf von oben durchbrach die Stille.
»Oberst!« rief der Pilot, der ihnen auf dem Abhang entgegenrannte. »Da kam gerade eine Meldung über Funk. Bei der 404ten wird mit Maschinengewehren geschossen!«
Tan befahl dem Piloten, über dem Gefängnis zu kreisen. Am Eingangstor standen drei Rettungswagen mit blinkenden Lichtern. Man konnte vier Gruppen von Leuten unterscheiden, die sich jeweils dicht zusammendrängten, wie Puzzleteile, die darauf warteten, aneinandergefügt zu werden. Auf dem Antreteplatz des Lagers saßen in einem engen Viereck die Häftlinge. Shan hielt nach Leichen Ausschau, nach wahllos verstreuten Körpern, die zu den Krankenwagen getragen wurden, doch er fand keine. Außerhalb des Drahtverhaus standen die Gefängniswachen in ihren grünen Uniformen vor dem Speisesaal und bildeten einen Halbkreis in Richtung des Gefangenenlagers.
Eine straffe graue Linie von Kriechern zog sich rund um den Stacheldrahtzaun, nur unterbrochen durch die Unterstände aus Sandsäcken. Die \ierte Gruppe war neu. Shan musterte sie, als der Hubschrauber landete. Es waren Tibeter. Hirten. Leute aus der Stadt. Kinder, alte Männer und Frauen. Manche schauten in Richtung des Lagers und sagten Mantras auf. Andere bereiteten ein torma-Opfer aus Butter vor, das geweiht und verbrannt werden sollte, um den mitfühlenden Buddha anzurufen.
Ein beißender Korditgestank hing in der Luft. Als das Heulen des Helikoptermotors erstarb, hörte Shan Kinder weinen und verzweifelte Rufe aus der Menge laut werden. Die Leute riefen Namen und meinten damit einzelne Häftlinge innerhalb der Umzäunung. In der Nähe des Eingangs saßen mehrere alte Männer und beteten. Shan lauschte ihnen einen Moment lang. Sie baten nicht etwa um das Überleben der Gefangenen. Sie beteten für die Erleuchtung der Soldaten.
Tan stand schweigend da und musterte die Szene. Sein Zorn war kaum zu übersehen. Vor den Zivilisten stand ein Dutzend Kriecher mit durchgeladenen Maschinenpistolen. Zu ihren Füßen lagen Patronenhülsen verstreut.
»Wer hat euch den Befehl gegeben, das Feuer zu eröffnen?« brüllte Tan.
Sie ignorierten ihn.
»Es gab eine Bewegung in Richtung der Todeszone«, sagte eine aalglatte Stimme hinter ihnen. »Man hatte die Leute gewarnt.« Shan erkannte den Mann, noch bevor er sich umdrehte. Der Major. »Wie Sie wissen, Oberst, verfügt das Büro in solchen Fällen über entsprechende Verfahrensweisen.«
Tan starrte den Major mit düsterem Blick an und ging dann wütend auf den Gefängnisdirektor zu, der bei den Wachen stand. Unterdessen trat Shan so nah er es wagte an den Zaun und suchte die Gesichter der Gefangenen ab. Von hinten packte ihn schmerzhaft eine Hand an jedem Arm. Seine Häftlingsinstinkte ließen ihn zusammenzucken, und er duckte sich, um sich auf den Schlag vorzubereiten. Als kein Schlag folgte, ließ er sich von den Soldaten wegführen. Die Kriecher erkannten ihn nicht als Gefangenen, begriff er. Seine Hand glitt an den Ärmel und zog ihn herunter, um die Tätowierung zu bedecken.
Er blieb stehen, wo man ihn hinbrachte, und starrte durch den Zaun. Von Choje war nichts zu sehen.
Die tibetischen Zivilisten wichen vor ihm zurück, als er durch die Menge ging. Sie drehten sich von ihm weg und ließen ihn nicht nahe genug an sich heran, daß er ein Gespräch anfangen konnte. »Die Häftlinge«, rief er den Rücken zu, die sich ihm zuwandten. »Sind die Häftlinge verletzt?«
»Sie haben Zauber«, rief jemand trotzig. »Zauber gegen die Kugeln.«
Plötzlich stand eine vertraute Gestalt vor ihm, die irgendwie fehl am Platz wirkte. Es war Sergeant Feng. Er trug das alte Wollhemd, das Shan ihm in Kham angezogen hatte, und sein schmutziges Gesicht wirkte müde. Als er Shans Blick erwiderte, lag keinerlei Überheblichkeit mehr darin. Einen Moment lang glaubte Shan, eine flehentliche Bitte daraus zu lesen.
»Ich dachte, Sie wären in den Bergen.«
»Da war ich auch«, erwiderte Feng lakonisch.
Als Shan auf ihn zuging, trat Feng vor, als wolle er ihm den Weg versperren. Shan legte Feng eine Hand auf die Schulter und schob ihn beiseite. Hinter ihm saß ein Priester am Boden und betete gemeinsam mit einer alten Frau ein Mantra. Shan blieb stehen und riß die Augen auf. Es war Yeshe, erkannte er auf einmal. Der Tibeter trug ein rotes Hemd, das den Eindruck eines Mönchsgewands erweckte. Sein Kopf war völlig kahlgeschoren.