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Yeshe grinste unbeholfen, als er Shan bemerkte. Er tätschelte der Frau die Hand und stand auf.

»Ich habe nach den Häftlingen gefragt«, sagte Shan.

Yeshe schaute in Richtung des Zauns. »Man hat über ihre Köpfe geschossen. Bislang ist niemand verletzt.« In seinem Blick lag eine Selbstsicherheit, die Shan noch nie an ihm gesehen hatte.

»Verdammter Narr!« rief der Sergeant plötzlich hinter ihnen aus und lief dann durch die Menge auf ein Kochfeuer zu, an dem eine Frau sich mit jemandem stritt. Es war Jigme.

»Sie will mir nichts geben«, sagte Jigme, sobald er Shan sah. »Ich habe ihr gesagt, daß es für Je Rinpoche ist.« Er sah erst Shan und dann Yeshe an. »Sagt es ihr«, bat er. »Sagt ihr, daß ich kein Chinese bin.«

»Sie sind in den Bergen gewesen«, sagte Shan. »Was ist geschehen?«

»Ich muß Kräuter finden. Einen Heiler. Ich dachte, vielleicht hier. Jemand hat gesagt, hier wären Priester.«

»Ein Heiler für Je?«

»Er ist sehr krank. Sehr schwach. Wie ein Blatt an einem verfaulenden Baumstamm. Schon bald wird er einfach davonschweben«, sagte Jigme mit verzweifelter Stimme und verschleierten, feuchten Augen, als wäre der Trauerfall bereits eingetreten. »Ich will nicht, daß er geht. Nicht auch noch Rinpoche. Lassen Sie ihn nicht gehen. Ich flehe Sie an.« Er packte Shans Hand und drückte sie so fest, daß es weh tat.

Eine Pfeife ertönte. Die Kriecher nahmen Haltung an, und eine Regierungslimousine kam in Sicht. Li Aidang sprang heraus, bedachte den Major mit einer flotten, abgekürzten Ehrenbezeigung und ging zu Tan herüber. Sie sprachen kurz miteinander, und dann schritt Li mit dem Major die Reihe der Kriecher ab, als würde er eine Truppeninspektion vornehmen.

Shan gab Sergeant Feng einen Stoß. »Fahren Sie in die Stadt«, sagte er drängend. »Holen Sie Dr. Sung, und bringen Sie sie zur Kaserne.«

Oberst Tan stand da, als würde er auf Shan warten, und musterte schweigend die Zivilisten.

»Warum müssen die Lektionen immer so schmerzhaft sein?« fragte der Oberst leise. »Fast fünfzig Jahre, und sie verstehen es noch immer nicht. Die Leute wissen, was wir zu tun haben.«

»Nein«, entgegnete Shan. »Die Leute wissen, was sie zu tun haben.«

Tan ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte.

Shan drehte sich zu ihm und kämpfte gegen das Verlangen an, zurück zum Zaun zu rennen. »Ich muß da rein.«

»Um sich vor die Waffen des Kommandos zu stellen? Kommt nicht in Frage.«

»Ich habe keine Wahl. Das sind meine... wir können sie nicht sterben lassen.«

»Glaubst du, ich will ein Blutbad?« Tans Gesicht umwölkte sich. »Vierzig Jahre in der Armee, und dafür wird man mich nun in Erinnerung behalten. Für das Massaker bei der 404ten.«

Die Limousine hupte. Tan seufzte. »Li Aidang will, daß ich mitkomme. Wir müssen aufbrechen. Ich werde dich im Lager Jadefrühling absetzen. Es gibt einen Empfang für die amerikanischen Touristen. Außerdem letzte Vorbereitungen vor dem Eintreffen der Delegation des Ministeriums. Und ein besonderes Bankett. Offenbar rechnet Genosse Li damit, nach dem Prozeß zum Ankläger befördert zu werden.«

Sie hielten oberhalb der Abzweigung zum Lager Jadefrühling.

Man hatte hier quer über die Straße eine neue Sperre errichtet, die von zwei Soldaten bewacht wurde, um die Zufahrt zum Gefängnis und zur Kaserne zu regeln. An der Schranke hing ein Schild, auf dem in englischer Sprache STRASSE WEGEN BAUARBEITEN GESPERRT stand. Im ersten Moment war Shan verwirrt, doch dann fiel es ihm wieder ein. Die amerikanischen Touristen.

Noch bevor Shan aus dem Wagen aussteigen konnte, erschien Li am Fenster und ließ einen Umschlag in Tans Schoß fallen.

»Hier sind mein abgeschlossener Bericht und die Aussage des Mörders«, verkündete er. »Die Verhandlung ist für übermorgen anberaumt, zehn Uhr vormittags. Im Stadion des Volkes.« Er warf Shan einen eisigen Blick zu. »Es sind neunzig Minuten eingeplant. Bis zum Mittagessen müssen wir fertig sein.«

Die oberste Seite der Akte war eine handschriftliche Namenliste. Shan zog sie heraus, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Die Ehrengäste der Veranstaltung im Stadion, die auf der Empore Platz finden sollten. An erster Stelle standen die Angehörigen der Gastdelegation des Justizministeriums, gefolgt von Oberst Tan und einem halben Dutzend ortsansässiger Würdenträger. Shan sah, daß Direktor Hu vom Ministerium für Geologie ebenso aufgeführt war wie Major Yang vom Büro für Öffentliche Sicherheit. Als er ein Ideogramm kurz vor dem Ende der Liste sah, überkam ihn ein Frösteln. Kein Name, kein Titel, lediglich das umgekehrte Y mit den beiden Balken.

Als Shan auf das Symbol wies, bemerkte Tan seinen fragenden Gesichtsausdruck. »Bloß der Spitzname«, sagte er angewidert. »Er mag es, wenn seine Freunde ihn so nennen. Hält es wohl für witzig.«

»Himmel?«

»Allerdings. Du weißt doch, Gott im Himmel. Alle Priester huldigen ihm.«

Shan nahm das Blatt und starrte es mit grimmiger Entschlossenheit an. Dieser Gast auf dem Podium war derselbe Mann, dessen Unterschrift zur Bestätigung auf der Karteikarte mit Jaos Siegel stand, die Shan aus dem Museum mitgenommen hatte. Die gleiche Unterschrift fand sich zudem auf der Nachricht, von der Shan annahm, daß sie Ankläger Jao in die Todesfalle gelockt hatte, wenngleich er letzteres nicht beweisen konnte.

Wen Li, der Direktor für Religiöse Angelegenheiten.

Kapitel 18

Sungpo bewegte sich zum erstenmal. Er barg den Kopf des alten Mannes im Schoß, wischte ihm mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab und hielt manchmal inne, um ihn mit Reis zu füttern, ein Korn nach dem anderen.

»Wir haben versucht, einen Doktor zu bekommen«, sagte Shan. Er fühlte sich hilflos. »Eine Ärztin aus der Stadt.« Doch Dr. Sung hatte sich geweigert. Als er anrief, um sie dazu zu bewegen, ihre Meinung zu ändern, hatte sie sogleich eine ganze Reihe von Ausreden vorgebracht. Sie hätte jetzt Sprechstunde in der Klinik, sagte sie. Sie müßte gleich operieren, sagte sie. Ein Militärlager läge außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs, sagte sie.

»Man hat es Ihnen mitgeteilt, nicht wahr?« hatte er sie gefragt. »Daß es sich um einen alten Lama handelt.«

»Weshalb sollte das einen Unterschied bedeuten?«

»Wegen der Vorfälle in der buddhistischen Schule.«

Während der Stille, die darauf folgte, war Shan sich nicht sicher gewesen, ob sie ihm überhaupt noch zuhörte. »Ein alter Mann ist todkrank«, hatte er sie beschworen. »Falls er stirbt, bleibt uns keine Möglichkeit mehr, mit Sungpo zu sprechen. Falls er stirbt, kann das dazu führen, daß ein anderer zu Unrecht hingerichtet wird. Und ein Mörder wird ungestraft davonkommen.«

»Ich habe eine Operation«, hatte Dr. Sung fast schon im Flüsterton gesagt.

»Kommen Sie mir nicht mit Ausflüchten«, hatte Shan erwidert. »Sagen Sie doch einfach, daß Sie nicht wollen.« Sie blieb stumm. »Neulich in Ihrem Büro ist mir etwas klargeworden«, setzte er nach. »Sie sind nicht verbittert über den Rest der Welt, wie Sie jedermann glauben machen wollen. Sie sind nur verbittert über sich selbst.«

Daraufhin hatte sie aufgelegt.

»Rinpoche«, sagte Shan sanft. »Ich könnte tsampa besorgen. Sagen Sie mir, was Sie essen möchten.« Er fühlte nach dem Puls des alten Mannes. Das Herz schlug langsam und schwach, wie das gelegentliche Kräuseln einer Feder im Lufthauch.

Je öffnete die Augen. »Mir fehlt es an nichts«, sagte er mit einer Stärke, die seine Erscheinung Lügen strafte. »Ich suche nach einem Tor. Einige Türen habe ich schon gefunden, aber sie sind verschlossen. Jetzt suche ich nach meinem Durchgang.«