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»Nur noch ein Tag, dann bringen wir Sie nach Hause.«

Je sagte etwas, aber so leise, daß Shan ihn nicht hören konnte. Es war an Sungpo gerichtet, der Je verstand und die Hand des Alten zu dem Rosenkranz an seinem Gürtel führte. Je begann ein Mantra.

Nachdem Shan hartnäckig darauf bestanden hatte, war Jigme der Zugang zum Arrestlokal gestattet worden. Er hatte sich sofort mit einer Schale Reis in die dunkelste Ecke der Zelle zurückgezogen. Als er sich umdrehte, war die Schale leer. Shan ging auf die Ecke zu. Einen Moment lang stellte Jigme sich ihm in den Weg, schaute von Sungpo zu Je und wieder zurück und gab schließlich nach.

Er hatte zwei der Steine, die als Kopfstützen dienten, vor die Wand geschoben, einen dritten Stein quer darüber gelegt und so einen winzigen Geisterschrein errichtet. Zwischen den unteren Steinen lagen ein halbes Dutzend Reisbällchen, die Spitzzange aus dem Schubfach und ein Stück Draht. Als Unterlage dienten einige kleine leuchtendweiße Stücke Papier.

Shan streckte die Hand nach dem Papier aus, doch Jigme schlug sie beiseite.

»Der Wachposten hatte sie, als ich vorhin gekommen bin. Er hat gelacht und sie Sungpo gezeigt, aber Sungpo hat meditiert. Da hat der Wachposten sie in die Zelle geworfen. Ich habe sie schnell aufgesammelt, bevor jemand mehr davon sehen konnte. Ich muß sie verbrennen. Sie sind respektlos.«

Das waren keine Blätter, begriff Shan, als er sie umdrehte. Es waren Fotos, insgesamt ein Dutzend Aufnahmen von drei verschiedenen Mönchen mit Beamten der Öffentlichen Sicherheit. Schaudernd erkannte Shan, daß er die Mönche bereits auf den Bildern in Jaos Akten gesehen hatte. Jedem dieser ersten drei Angehörigen der Fünf von Lhadrung waren vier der Fotos gewidmet. Das erste zeigte den jeweiligen Mann zwischen zwei Soldaten bei seiner Verhandlung. Auf dem nächsten kniete er. Auf dem dritten konnte man knapp einen halben Meter hinter seinem Kopf eine Pistole sehen. Die letzte Aufnahme zeigte ihn ausgestreckt und tot auf dem Boden, den Kopf inmitten einer großen Blutlache.

Mit zitternden Händen schob Shan die Fotos zusammen und steckte sie ein.

Sungpo sprach abermals mit Je. Der alte Mann stieß ein heiseres, pfeifendes Lachen aus. »Er sagt, ich soll Bescheid geben, daß wir bald anfangen müssen«, erklärte Je. Womit anfangen? Dann verstand Shan. Mit den Riten zum Übergang seiner Seele. Der Blick des Alten richtete sich auf die Zellentür, verweilte unsicher auf Yeshes Gestalt und wanderte dann träge weiter. »Wenn man sich treiben läßt, findet man manchmal von selbst den Weg«, murmelte er, als sei ihm versehentlich ein Gedanke entschlüpft.

Jigme stand am Gitter und klammerte sich daran fest, als würde er andernfalls fortgetragen werden. »Wir könnten ihn bitten, vom Berg herunterzukommen«, flüsterte er Shan zu. »Er ist solch ein heiliger Mann; vielleicht würde er helfen.«

»Ein Heiler?« fragte Yeshe. »Habt ihr einen Heiler gefunden?«

»Er ist hungrig, der Pferdeköpfige«, sagte Jigme mit hohler Stimme. »Gut, soll er mich verschlingen. Das ist mir egal. Vielleicht könnt ihr dann mit ihm reden, vielleicht wird er euch dann dabei helfen, Sungpo zu retten.«

Shan eilte sofort zu ihm und zog ihn von den Gitterstäben weg. »Ihr habt ihn gefunden? Ihr habt Tamdin gefunden?«

Da war eine Höhle, räumte Jigme schließlich ein, in welcher der Dämon schlief. »Die Hand des Dämons war verschwunden, aber der alte Mann, den wir vom Markt mitgenommen hatten, kannte sich gut mit Gebeten aus. Zuerst kamen nur Leute aus den Dörfern und Hirten. Doch dann kam einer von oben, stieg den Berg herunter wie eine Ziege, auf einem Pfad, der nicht breiter war als die Hand eines Mannes. Er hat das Gebet gegen Hundebisse zurückgelassen, einige Mantras aufgesagt und ist wieder den Hang hinaufgeklettert. Auch ohne den alten Mann hätte ich gewußt, daß es sich um Tamdins Diener handelt, denn sie waren auch da.«

»Sie?«

»Die Geier. Sie folgten ihm, als wären sie zahm, als wüßten sie, daß er ihnen frisches Fleisch bringen würde.«

Jigme und Sergeant Feng waren Tamdins Diener auf dem tückischen Pfad fast zwei Kilometer weit den Hang hinauf bis zu einer versteckten Höhle dicht unterhalb der Kammlinie gefolgt. »Nachdem er mit einem leeren Wasserkrug weggegangen war, habe ich mich hineingeschlichen. Aber Tamdin hatte die Form eines Wolfsdämons angenommen.« Jigme zog sein Hosenbein hoch und zeigte ihnen eine gezackte, nässende Wunde in seiner Wade, deren Rand deutliche Bißspuren trug. »Verflucht noch mal, ich bin gerannt, so schnell ich konnte.«

»Könnten Sie uns die Stelle zeigen?« fragte Yeshe aufgeregt.

Jigme nickte langsam und schaute zu Je. »Soll er mich verschlingen, als ein Opfer. Das ist mir egal. Sungpo wird mich im nächsten Leben wiederfinden. Wenn er sich den Bauch vollgeschlagen hat, wird Tamdin vielleicht mit euch sprechen. Bittet ihn, wegen Rinpoche ins Tal zu kommen. Aber vielleicht ist nicht genug Zeit. Wir müssen den Berg hoch; die Höhle liegt weit oberhalb des Schreins der Amerikaner. Es ist ein schwieriger Aufstieg.«

»Nein«, warf Shan ein. »Es gibt einen leichteren Weg.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Yeshe.

»Weil ich weiß, von wo Tamdins Diener gekommen ist.«

Die vier Männer stiegen schweigend und nachdenklich zwischen den Felsen empor. Ihnen war unwohl zumute, der Wind peitschte sie, und die dünne Höhenluft raubte ihnen die Kräfte. Sie hatten den Pfad genau da gefunden, wo Shan ihn erwartet hatte, parallel zum Drachenschlund. Er kreuzte den Weg hinter den Felsformationen in der Nähe der alten Hängebrücke. Auf einer Strecke von etwa anderthalb Kilometern stieg er zunächst steil die Nordklaue empor und folgte dann dem Verlauf der langgezogenen Kammlinie.

Jigme, der darauf bestanden hatte voranzugehen, fiel plötzlich auf die Knie und wies nach vorn. »Da!« keuchte er. »Der Diener!«

Fengs Hand legte sich auf die Pistole. »Nein«, sagte Shan. »Er wird uns nichts tun. Lassen Sie mich allein mit ihm sprechen.«

Als der Mann näher kam, saß Shan allein vor einigen großen Felsen. Die anderen hatten sich dahinter versteckt. Der Neuankömmling trug einen Leinensack über der Schulter und zwei gaus um den Hals. Er blieb schlagartig stehen und musterte Shan argwöhnisch.

»Hallo, Chinese.«

»Ich bin froh, daß Sie es sind, Merak.«

Der Dorfvorsteher der ragyapas nickte, als würde er begreifen. »Es hat niemals jemand anders um die Zaubersprüche gebeten, nicht wahr?« fragte Shan.

Merak legte den Sack ab und lehnte sich neben Shan an den Felsen. Eine Hand lag auf seinen gaus. Er schien erleichtert zu sein, daß man ihn entdeckt hatte. »Aber wer hätte das schon geglaubt? Es kommt nicht oft vor, daß ein ragyapa zu großen Taten berufen wird.«

»Was tun Sie für ihn?«

»Ein Dämon braucht viel Ruhe. Er muß beschützt werden, während er schläft. Wenn ich in der Lage war, ihn zu finden, dann könnte das auch anderen gelingen, habe ich befürchtet.«

»Wie lange geht das schon so?«

»Dieser Bastard Xong De. Der Direktor der Minen. Er hat sich geweigert, meinen Neffen in der amerikanischen Mine arbeiten zu lassen.«

»Luntok«, sagte Shan, der auf einmal den Zusammenhang begriff. »Luntok ist Ihr Neffe? Derjenige, der auf die Berge klettert?«

»Ja«, erwiderte Merak mit sichtlichem Stolz. »Wissen Sie, er wird den Chomolungma besteigen.«

»Aber wie hat er dann seine Stelle bekommen, nachdem man ihn abgelehnt hatte?«

»Xong ist gestorben. Es heißt, Tamdin habe es getan. Ich habe das auch geglaubt, denn danach wurden plötzlich Tibeter bei der Mine angestellt. Luntok hat auch schon bald die entsprechende Erlaubnis erhalten. Ich wollte Tamdin ein Dankopfer bringen, und ich wußte, daß er im Hochgebirge lebt. Also habe ich angefangen, nach ihm Ausschau zu halten. Dann, nachdem Luntok seine Hand gefunden hatte, wußte ich, wo ich suchen mußte. Ich kenne unsere Geier. Sie suchen sich ihre Beute ganz oben auf den Kämmen. Dieser Vogel hatte die Hand bei den Amerikanern fallen gelassen. Er hat bestimmt nicht lange gebraucht, um zu merken, daß dies keine gewöhnliche Nahrung für ihn war.«