»Was bedeutet, daß Tamdin sich in einer hochgelegenen Höhle in der Nähe der Amerikaner befinden mußte.«
Merak nickte energisch. »Zuerst hatte ich Angst, ich hätte ihn erzürnt. Ich habe seine goldene Haut berührt. Doch als ich seine Macht spürte und mir klar wurde, was ich getan hatte, bin ich weggelaufen.«
»Doch dann sind Sie mit beschwichtigenden Zaubersprüchen zurückgekehrt, und seitdem haben Sie ihm geholfen.«
»Er war schwer verletzt, das konnte ich sehen. Beim Kampf gegen den letzten Teufel hatte er seine Hand verloren. Er hat doch schon so viele Kämpfe durchgestanden. Ich habe die Hand zurückgebracht und auch die Zaubersprüche, aber ich wußte, daß er Ruhe braucht. Also habe ich Beschützer dort postiert, damit er ungefährdet von seinen Wunden genesen kann. Und seitdem habe ich stets Nahrung und Wasser gebracht.«
»Nahrung und Wasser?«
»Ich weiß um den Unterschied zwischen Dämonen und Kreaturen aus Fleisch und Blut.«
»Weshalb benötigen Sie Gebete, um sich vor ihnen zu schützen, wenn sie doch Ihr Eigentum sind.«
»Es sind nicht meine. Ich habe sie einem Hirten abgekauft, und jetzt gehören sie Tamdin.«
Shan sah ihn an und verspürte eine unbestimmte, aber immer stärker werdende Angst. »Wollen Sie mit mir kommen?«
Merak nahm den Leinensack und schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß, daß Sie dies tun müssen, Chinese. Die Leute sprechen oft darüber, daß Sie die Beschwörung durchgeführt haben. Es gibt für Sie kein Zurück.«
Merak deutete den Pfad hinunter und beschrieb Shan den versteckten Höhleneingang, der einen knappen Kilometer entfernt in einer kleinen Schlucht lag. Bevor er aufbrach, schüttelte er erneut den Kopf. »Ich möchte nicht dort sein, wenn ein Chinese versucht, die Höhle zu betreten. Sie sollten sich lieber wünschen, Sie könnten mit mir kommen. th habe Sie ganz gern gemocht.«
Als sie die Schlucht erreichten, wandte Shan sich zu seinen Gefährten um. »Sergeant«, sagte er und wies auf Jigme. »Sein Bein blutet wieder. Sie müssen es verbinden.« Shan riß sich die Hemdschöße ab und gab sie Feng.
Sergeant Feng starrte nervös in die Schlucht und schien ihn anfangs gar nicht zu hören. Dann drehte er sich zu ihm um und runzelte die Stirn. »Glaubst du etwa, ich hätte Angst vor dem Dämon?«
»Nein. Ich glaube, daß sein Bein blutet.«
Feng stieß ein Grunzen aus und führte Jigme zu einem flachen Felsen am Eingang zur Schlucht. Shan und Yeshe folgten dem Verlauf der Klamm, die sich zunächst zu einem schmalen Durchgang verengte und dann plötzlich auf eine Lichtung führte.
Im selben Moment, in dem Shan einen Fuß auf die Freifläche setzte, griffen die Tiere ihn an.
Sie waren gerade damit beschäftigt, das Fleisch zu verschlingen, das Merak ihnen gebracht hatte, doch sobald sie Shan sahen, sprangen sie auf, fletschten die Zähne und knurrten bösartig. Es handelte sich um die größten Hunde, die er je zu Gesicht bekommen hatte, schwarze tibetische Mastiffs, die gezüchtet worden waren, um die Herden gegen Wölfe und Leoparden zu verteidigen. Allerdings waren die Exemplare hier vor ihm weitaus größer als ihre Artgenossen, die Shan in Kham gesehen hatte. Wären die Hunde nicht angeleint gewesen, hätten sie ihn in Stücke gerissen. Als Rebecca Fowler die Zeremonie am Fuß des Berges durchgeführt hatte, war ein Heulen durch die Nacht gehallt.
Hinter den Hunden befand sich die Höhle.
Als würde ihm ein kalter Hauch ins Ohr flüstern, erinnerte er sich plötzlich an die Worte von Khordas Wahrsagerin. Du mußt dich vor schwarzen Hunden verneigen, hatte sie ihn gewarnt. Er fiel auf die Knie und warf sich dann in den Staub. Die Hunde beruhigten sich und wurden neugierig. Neben ihm bewegte sich etwas. Yeshe war dort, sprach mit tiefer, besänftigender Stimme und hielt den Tieren seinen Rosenkranz entgegen. Es war unvorstellbar, aber die Hunde neigten tatsächlich die Köpfe und kamen langsam näher. Yeshe fing an, sie zu streicheln, und sagte ein Gebet auf. Shan mußte erneut an Khartok gompa denken. Die Hunde waren Reinkarnationen gescheiterter Priester.
Am Höhleneingang lehnten Fackeln am Fels. Shan entzündete eine und folgte dem Gang, der eine Biegung nach rechts vollführte und dann in einer großen Kammer endete. Er erstarrte und wurde von Panik ergriffen. Sein Herzschlag setzte aus. Es sah ihn an. Es kam auf ihn zu und bleckte die roten Fangzähne. Er hatte den heiligen Boden entweiht, und jetzt würde es sich auch seinen Kopf holen.
»Nein!« rief er und schüttelte heftig den Kopf, um sich aus dem Bann zu befreien. Er sagte sich, daß es sich um eine optische Täuschung handeln mußte, und ging langsam vorwärts, wenngleich er nach wie vor gegen seine Angst ankämpfen mußte. Man hatte die Maske und das Kostüm sorgfältig auf ein hölzernes Gestänge gehängt, um Eindringlinge abzuschrecken. Das fein gearbeitete Gold schimmerte, und die Halskette aus Schädeln tanzte im flackernden Licht. Khordas Beschwörungsformel hatte funktioniert, dachte er finster. Aber wer beschwor hier wen? Tamdin schien auf ihn zu warten.
Choje würde wollen, daß er jetzt ganz bestimmte Worte sagte, doch er vermochte sich nicht daran zu erinnern. Es gab mudras, die er als Opfer darbieten konnte, doch seine Finger waren wie gelähmt.
Er wußte nicht, wie lange er dort stand und gebannt auf die Kreatur starrte, die er gejagt hatte. Schließlich rammte er die Fackel zwischen zwei Felsen und umrundete das Kostüm, dessen machtvolle Ausstrahlung und Schönheit ihn mit Ehrfurcht erfüllte. Auf die Vorderseite hatte man einige Reihen runder Embleme aufgenäht. Direkt unterhalb der Taille gab es eine Lücke. Shan griff in die Tasche und holte die Scheibe hervor, die Jilin bei Jaos Leiche gefunden hatte. Sie paßte genau.
Hinter ihm erschauderte jemand. Yeshe war ihm gefolgt und spürte nun die Macht des Dämons. Er fiel auf die Knie und sprach ein Gebet.
Neben dem Kostüm befand sich ein flacher, tischgleicher Felsen, auf dem Tamdins Ritualgegenstände lagen. Der erste war eine große, geschwungene Klinge mit langem Griff. Shan berührte sie; sie war rasiermesserscharf, auf jeden Fall scharf genug, um einem Menschen den Kopf abzutrennen. Unter dem Fels standen besondere Stiefel, an denen vergoldete Schienbeinpanzer befestigt waren. Die Arme lagen vor der Wand auf einem anderen Felsen. Einer war beschädigt und ohne Hand. Merak hatte das abgetrennte Körperteil ehrerbietig vor dem Felsen abgelegt.
Shan griff nach seinem gau. Es fühlte sich seltsam heiß an. Dann steckte er eine zitternde Hand in das abgewetzte Leder des intakten Arms. Es war mit kunstvoll gearbeiteten Hebeln und Seilzügen ausgestattet. Shan betätigte einen der Hebel in der Nähe des Handgelenks, woraufhin sich entlang des Oberarms eine Reihe winziger Schädel drehte. Der nächste Hebel ließ Krallen aus den Fingern gleiten. Mittels einiger Ringe, die über die Finger des Tänzers gestreift wurden, ließ sich ein Paar zusätzlicher Arme bewegen, kleine, künstliche Gliedmaßen, die in Schulternähe angebracht waren. Es war ein wundersamer Apparat und stellte selbst nach den heutigen modernen Maßstäben eine technische Meisterleistung dar. Mit Sicherheit würde es Stunden dauern, den Gebrauch zu erlernen. Aber nicht Wochen und schon gar nicht Monate. Die lange Ausbildungszeit der Tamdin-Tänzer mußte für die zeremoniellen Bewegungen erforderlich gewesen sein, erkannte Shan, für die Abstimmung des Geräts auf die komplexen Rituale, die damit durchgeführt werden sollten.
Shan zog sich Tamdins Arm bis zur Schulter hinauf. Das Kostümteil fühlte sich überraschend bequem an, beinahe natürlich. Das seidene Futter erlaubte eine nahezu ungehinderte Bewegung. Er streckte die Klauen aus und ertappte sich dabei, wie er sie mit einem Gefühl unermeßlicher Macht anstarrte. Er ließ die Krallen mehrfach aus- und einfahren. Dies war Tamdin. Dies war die Art, wie man Tamdin wurde.