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Ein Gefühl großer Befriedigung stieg in ihm auf. Mit diesem Arm, mit diesen Klauen, mit dieser Macht ließen sich einige offene Rechnungen begleichen.

Ein erschrockenes Keuc hen hinter ihm durchbrach die Faszination. Yeshe sprang vor und begann damit, das Kostümteil von Shans Arm zu zerren. Dann spürte auch Shan auf einmal die Finsternis und riß sich von dem Apparat los. Die beiden Männer standen über den künstlichen Arm gebeugt und blickten gleichzeitig auf. Am Eingang der Kammer saßen die zwei schwarzen Hunde und starrten Shan mit lautloser, aber eisiger Eindringlichkeit an.

Mit zitternder Hand deutete er auf drei große Rosenholzkisten im Schatten. Sie stellten schnell fest, daß die Behälter für den Transport des Kostüms gebaut worden waren; in einem fand sich ein Ständer für den Kopfschmuck. Im Innern der Kiste war mit vergilbtem Klebeband ein Umschlag befestigt. Yeshe holte einige Stücke Papier daraus hervor, von denen manche vor Alter ganz brüchig waren.

Die ersten Seiten waren die fehlende Bestandsliste aus Saskya gompa, die man vor vierzehn Monaten angefertigt hatte und auf der von der Entdeckung der Kisten in der Unterkunft eines alten Lama berichtet wurde, der früher einmal Tamdin-Tänzer gewesen war.

»Doch wer hat es mitgenommen?« fragte Yeshe. »Wer hat das Kostüm gestohlen und hergebracht? Direktor Wen?«

»Ich glaube, daß Wen davon wußte, aber das ist nur ein Teil des Puzzles. Wen hat das Kostüm nicht benutzt, und Wen hat auch nicht den Kopf des Anklägers zu dem Schrein gebracht.« Er war nicht gläubig genug, wollte Shan damit sagen. Wer auch immer das Kostüm benutzt und Jaos Kopf abgetrennt hatte, war ein religiöser Eiferer.

»Sie meinen, Sie sind inzwischen der Ansicht, ein Mönch habe es gestohlen?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Shan und spürte, wie Enttäuschung sich als schweres Gewicht auf seine Brust legte. Er hatte damit gerechnet, daß das Ende seiner langen Suche nach Tamdin ihn auch mit den nötigen Antworten versorgen würde. »Vielleicht weiß das nur der Lama, dem man das Kostüm abgenommen hat.«

Yeshe richtete seine Aufmerksamkeit auf die älteren Seiten.

»Ein Bericht«, verkündete er, nachdem er die ersten Absätze überflogen hatte. »Ein Anthropologe aus Guangzhou. Geschichte des Kostüms. Einzelheiten der Zeremonie, so wie er sie 1958 mit eigenen Augen gesehen hat.« Er hielt inne und blickte auf. »Im Kloster Saskya. Saskya war das einzige gompa im gesamten Bezirk, das den Tanz aufführen konnte.« Er fing an, laut vorzulesen. »Das Wissen um die Zeremonie war ein heiliges Geheimnis«, las er, »das der einzige eingeweihte Mönch nur an seinen Nachfolger aus der nächsten Generation weitergab. Der Tamdin-Tänzer des Jahres 1958 galt als bester Tänzer in ganz Tibet.«

»Aber wer hat sich letztes Jahr im Besitz des Kostüms befunden?« dachte Shan laut. »Der alte Tänzer, sofern er überhaupt noch am Leben war. Oder sein Schüler. Er weiß, wer das Kostüm genommen hat. Das ist der Beweis, den wir brauchen. Das ist die Verbindung zu dem Mörder.«

Yeshe las schweigend noch ein Stück weiter, ließ dann die Blätter sinken und starrte Shan verblüfft an. Shan nahm ihm den Text aus der Hand und las selbst. Der Tänzer des Jahres 1958 war Je Rinpoche.

Jemand hatte vor der Kaserne ein Zelt errichtet, ein jurtenähnliches Gebilde aus Yakfilz. Vier Mönche warteten schweigend am Tor. Feng hielt den Wagen an, damit sie das Geschehen verfolgen konnten.

Vier Kriecher mit einer Trage tauchten auf. Das Tor öffnete sich, und die Trage wurde von den vier Mönchen übernommen, die ihre gebrechliche Last mit kleinen, vorsichtigen Schritten zum Zelt trugen. Jemand schlug die Zeltklappe auf, und sie verschwanden im Innern. Mit laut stotterndem Motor und quietschenden Bremsen näherte sich ein uralter Lastwagen und parkte neben dem Zelt. Shan erkannte einige der Männer, die aus dem Fahrzeug ausstiegen. Mönche aus dem Kloster Saskya.

Das Zelt war von dichtem Weihrauchdunst erfüllt. Der alte Priester, den Shan im Tempel von Saskya getroffen hatte, stand über Je gebeugt und wusch ihn für die Zeremonie. Ein zweiter älterer Mönch stand am Kopfende der Trage, die man auf einigen Strohballen abgestellt hatte. Die Ärmel seines Gewands waren mit Brokat besetzt. Es mußte sich um den Abt von Saskya handeln, erkannte Shan. Als Shan und Yeshe sich näherten, stellten zwei jüngere Priester sich ihnen in den Weg. Yeshe schob sich vor Shan, als wolle er ihn beschützen.

»Wir müssen mit ihm sprechen«, protestierte Shan.

Wortlos deuteten die Mönche auf einen freien Fleck neben einigen ihrer Glaubensbrüder, die vor der Lagerstelle saßen, Gebetsmühlen drehten und leise Mantras aufsagten.

»Nur eine Frage«, bat Yeshe. »Rinpoche hätte bestimmt nichts gegen eine einzige Frage einzuwenden.«

Der Priester warf ihm einen wütenden Blick zu. »Wo hast du deine Unterweisung erfahren?«

»Im Kloster Khartok. Ich kann alles erklären«, erwiderte Yeshe flehentlich. »Es geht um die Rettung von Sungpo. Vielleicht sogar um die Rettung der 404ten.«

Der Priester musterte Shan. »Die Bardo-Zeremonie hat bereits begonnen. Der Übergang findet bereits statt. Seine Seele hat sich schon gelöst. Es erfordert all seine Konzentration. Er kann jetzt in weiter Ferne ein winziges Licht sehen. Falls er abgelenkt wird und es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen verliert, könnte er an einen Ort geschickt werden, der gar nicht beabsichtigt war. Womöglich würde er nie an sein Ziel gelangen und endlos durch die Leere treiben. Dieser Mönch aus Khartok weiß das sehr wohl«, sagte er mit einem verächtlichen Blick auf Yeshe.

Sie setzten sich und warteten. Yeshe fing an, seinen Rosenkranz zu beten, aber Shan sah, daß er sich bald schon verzählte und die Fäuste ballte. Man brachte Butterlampen und entzündete sie.

»Ihr versteht nicht!« rief Yeshe auf einmal. »Er könnte Sungpo retten! Wir können die 404te schützen!«

Der kenpo wandte sich in seine Richtung und bedachte ihn mit einem frostigen Blick. Einer der jüngeren Mönche kam wütend auf Yeshe zu, als wolle er ihn packen und festhalten, wurde jedoch von einem plötzlichen Tumult am Zelteingang unterbrochen. Man hörte leise, drängende Proteste. Die Zeltklappe wurde aufgeschlagen, und Dr. Sung trat ein. Ihr wütender Blick richtete sich auf Shan und ignorierte alle anderen. Dann trat sie an die Trage. Als sie ihre Tasche öffnete, stieß der Abt einen aufgeregten Schrei aus und packte ihren Arm.

Sie sagte nichts. Ihre Blicke trafen sich. Mit ihrer freien Hand zog sie ein Stethoskop aus der Tasche, legte es sich um den Hals und löste dann - einen Finger nach dem anderen - die Hand des Abtes von ihrem Arm. Er rührte sich nicht von der Stelle, aber er tat auch nichts, um sie von ihrer Untersuchung abzuhalten.

»Sein Herz schlägt so schwach, daß es nicht einmal ein Kind am Leben erhalten könnte«, sagte sie. »Ich vermute einen Gefäßverschluß.«

»Kann man das behandeln?« fragte Shan.

»Vielleicht. Aber nicht hier. Ich muß Tests im Krankenhaus durchführen.«

»Nur eine Frage«, drängte Yeshe und sah auf die Uhr. »Wir müssen es wissen. Er ist der einzige, der es uns sagen kann.«

Sung zuckte die Achseln und zog mit einer Spritze eine klare Flüssigkeit auf. »Das wird ihn aufwecken«, sagte sie. »Zumindest für kurze Zeit.« Sie desinfizierte eine Stelle an Jes Arm.

Als sie sich mit der Nadel vorbeugte, legte der Abt seine Hand auf die beabsichtigte Einstichstelle. xSie haben ja gar keine Vorstellung von dem, was Sie gerade anrichten«, sagte er.

»Er ist ein alter Mann, der Hilfe braucht«, flehte Yeshe. »Er muß hier nicht sterben. Falls er jetzt stirbt, könnte das auch Sungpos Tod bedeuten.«