»Sein ganzes Leben war diesem Moment des Übergangs gewidmet«, warnte der Abt. »Man darf ihn nicht aufhalten. Er hat die Reise bereits angetreten und befindet sich an einem Ort, an dem keiner von uns ihn stören darf.«
Dr. Sung sah den Priester an, als nähme sie ihn zum erstenmal richtig wahr. Dann ließ sie langsam die Spritze sinken und blickte zu Shan, der an ihre Seite trat. »Sie sind derjenige, der mich hierum gebeten hat«, sagte sie. Doch die Verwirrung, die in ihrer Stimme mitschwang, ließ es eher wie eine Frage als wie eine Anschuldigung klingen.
»Falls er heute stirbt, wird Sungpo morgen sterben«, sagte Yeshe bekümmert über Shans Schulter hinweg. »Alles wird umsonst gewesen sein. Falls wir die Antwort nicht jetzt erhalten, bekommen wir sie nie.«
Shan wies in Richtung des Eingangs. Die Ärztin legte ihre Instrumente am Rand der Trage ab und folgte ihm.
»Falls es eine Krankheit ist, sollten wir ihn in die Klinik bringen«, sagte Shan leise. »Falls es aber nur ein natürliches Hinscheiden... «
»Was meinen Sie mit natürlich?« fragte Dr. Sung.
Shan blickte nach draußen und durch den Stacheldraht auf das langgestreckte Gebäude, in dem Sungpo saß. »Ich schätze, das weiß ich nicht mehr.«
»Falls ich einige Tests durchführen könnte«, schlug Sung vor, »dann wäre es vielleicht... «
Sie wurde durch einen entsetzten Aufschrei unterbrochen. Beide wirbelten herum. Die Priester sprangen auf. Der alte Abt prügelte mit einer Zeremonienglocke auf Yeshes Kopf ein.
Yeshe stand mit tränenüberströmtem Gesicht über die Trage gebeugt. Er hatte Je die Injektion verabreicht.
Alle riefen wild durcheinander. Jemand verlangte, den Namen von Yeshes Abt zu erfahren. Ein anderer packte sein rotes Hemd und riß es ihm herunter. Plötzlich hob sich Jes Arm, und alle verstummten.
Der Arm ragte senkrecht nach oben, und die Hand beschrieb eine langsame, unheimliche Kreisbewegung, als würde sie nach etwas tasten, das knapp außerhalb ihrer Reichweite lag.
Shan eilte an Jes Seite und wischte ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn ab. Die Lider des alten Mannes zitterten; dann schlug er die Augen auf. Er starrte zum Zeltdach empor, hielt sich die ausgestreckte Hand vor das Gesicht und musterte sie, während er wie in Zeitlupe die Finger bewegte, als wären es die Flügel eines Schmetterlings in der Kälte. Er wandte den Kopf, tastete nach Shans Gesicht und kniff die Augen zusammen, als könne er ihn nur undeutlich erkennen. »Auf welcher Ebene befinde ich mich?« flüsterte er mit trocken krächzender Stimme.
»Rinpoche«, drängte Yeshe. »Sie waren der Tamdin-Tänzer von Saskya und haben bis vor einem Jahr das Kostüm aufbewahrt. Wer hat es Ihnen weggenommen? Haben Sie jemanden im Gebrauch des Kostüms unterwiesen? Wer war es? Wir müssen wissen, wer das Kostüm genommen hat.«
Je stieß ein heiseres Lachen aus. »Ich habe Leute wie dich an jenem anderen Ort gekannt«, krächzte er.
»Rinpoche. Bitte. Wer war es?«
Seine Lider erzitterten abermals und schlossen sich. Da war ein neues Geräusch, ein Rasseln in seiner Brust. Die Umstehenden verharrten einige Minuten lang in qualvollem Schweigen.
Dann öffneten sich seine Augen wieder, diesmal sehr weit. »Letzten Endes«, sagte er langsam, als würde er gleichzeitig auf etwas lauschen, »bedarf es lediglich eines einzigen makellosen Tons.« Jedes Wort wurde von dem pfeifenden Rasseln begleitet. Dann schloß er die Augen, und das Rasseln hörte auf.
»Er ist tot«, verkündete Dr. Sung.
Kapitel 19
Yeshe starrte den Körper mit abgrundtiefer Verzweiflung an. Die Augen des alten Mannes am Fuß der Trage flossen vor Tränen über. Eine Stimme im Hintergrund rezitierte laut ein tibetisches Totengedicht. Der Priester, der die Bardo-Zeremonie durchgeführt hatte, begann mit kalter Wut zu sprechen und stimmte eine finstere Litanei an, die Shan noch nie zuvor gehört hatte. Sein zorniger Blick war auf Yeshe gerichtet, und er sprach immer schneller und lauter. Yeshe schaute stumm zu ihm herüber. Aus seinem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen.
Shan zog an Yeshes Arm, doch der Tibeter schien nicht in der Lage zu sein, sich zu bewegen. Der Abt durchwühlte mit tränenüberströmtem Gesicht hektisch das Haar an Jes Scheitel. Bei korrekter Durchführung der Zeremonie wäre Jes Seele durch ein winziges Loch entwichen, das nach dem Glauben der Mönche jeder Mensch am Scheitelpunkt des Kopfes besaß.
»Gebt ihm einen Knochen!« brüllte jemand von hinten.
»Sein Name ist Yeshe!« rief ein anderer. »Aus dem Kloster Khartok.«
Shan lehnte sich gegen Yeshe und schob ihn aus der Jurte. Yeshe wirkte auf einmal schwach und leblos. Shan nahm seine Hand und führte ihn zum Arrestlokal. In seiner Zelle hatte Sungpo inzwischen einen Sprechgesang angestimmt, ein neues Mantra, ein trauriges Mantra. Irgendwie wußte er es.
»Es spielt keine Rolle«, sagte Shan zu Yeshe, nicht weil er das tatsächlich glaubte, sondern weil er es nicht ertragen konnte, daß auch Yeshe nun zum Opfer wurde.
»Es spielt eine gewaltige Rolle.« Yeshe zitterte. Er betrat eine leere Zelle und packte die Gitterstäbe, um sich zu stützen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Angst, wie Shan ihn noch nie gesehen hatte. »Was ich getan habe... es hat den Moment seines Übergangs zerstört. Ich habe seine Seele vernichtet. Und ich habe meine Seele vernichtet«, fügte er mit kalter Gewißheit hinzu. »Dabei weiß ich nicht einmal den Grund dafür.«
»Sie haben es getan, um Sungpo zu helfen. Und Sie haben es getan, um Dilgo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie haben es für die Wahrheit getan.« Er hatte Yeshe nichts von der Gebetskette aus Koralle erzählt, die ihm in Lhasa im Museum aufgefallen war. Es handelte sich um ein Duplikat von Dilgos Rosenkranz, das man dem Mordopfer zweifellos untergeschoben hatte, um Dilgo in den Fall zu verwickeln und Yeshe zu einer unbewußten Lüge zu verleiten. Es war ohne Belang, ob Yeshe von Shans Entdeckung erfuhr oder nicht, denn in seinem Herzen hatte er den Betrug schon vor langer Zeit erkannt.
»Ihre verdammte Gerechtigkeit«, stöhnte er. »Warum habe ich Ihnen nur geglaubt?« Er schien kleiner zu werden, schrumpfte vor Shans Augen zusammen. »Vielleicht ist es wahr«, sagte Yeshe und schien zu einem Schluß zu gelangen, der ihn entsetzte. »Vielleicht haben Sie tatsächlich Tamdin beschworen. Vielleicht ist er schon die ganze Zeit um uns herumgeschlichen. Vielleicht hat er Sie dazu benutzt, um Rücksichtslosigkeit zu säen. Auf seiner Suche nach Wahrheit macht er alles dem Erdboden gleich und verwüstet sogar die Seelen.«
»Sie können in Ihr gompa zurückkehren. Sie möchten wieder Priester sein, das haben Sie mir anschaulich bewiesen. Dort wird man Ihnen helfen.«
Yeshe ging zur hinteren Wand und lehnte sich dagegen. Als er aufblickte, wirkte er so ausgemergelt, daß Shan den Eindruck bekam, das Fleisch auf seinen Knochen hätte sich zusammengezogen. Er war noch immer leichenblaß. Das da vor Shan war nicht mehr Yeshe, sondern nur noch ein Schatten. »Man wird mich anspucken. Man wird mich aus den Tempeln vertreiben. Jetzt kann ich niemals mehr zurückkehren. Und nach Sichuan kann ich auch nicht gehen, denn ich kann keiner von denen mehr sein. Ich will kein guter Chinese sein«, sagte er. »Auch das haben Sie mir zerstört.« Er musterte Shan mit gequältem Blick. »Was haben Sie mir angetan? Ich habe die Viererwahl getroffen. Ich hätte ebensogut von einer Klippe springen können.« Gebt ihm einen Knochen, hatten die Mönche gesagt. »Alles umsonst.«
Langsam rutschte er an der Wand entlang zu Boden. Tränen rannen über seine Wangen. Er nahm seinen Rosenkranz und zerriß ihn. Die Perlen fielen langsam zu Boden und rollten auseinander.
Shan war wie betäubt und fühlte sich völlig hilflos. Er goß Wasser in eine Teetasse und reichte sie Yeshe. Sie rutschte durch Yeshes Finger und zerbrach auf dem Boden. Shan suchte verzweifelt nach tröstenden Worten und fing an, die Porzellanstücke aufzusammeln. Plötzlich hielt er inne und ging in die Knie. Er starrte auf die Scherben in seinen Händen.