»Nein!« rief er aufgeregt. »Je hat uns genau das mitgeteilt, was wir wissen mußten. Schauen Sie nur!« sagte er, packte Yeshes Schulter und hielt eine Scherbe empor. »Sehen Sie, was ich meine?«
Doch Yeshe nahm ihn nicht mehr wahr. Wenngleich es ihm in der Seele weh tat, so stand Shan doch auf, warf Yeshe einen letzten schmerzlichen Blick zu und rannte aus dem Gebäude.
Als Sergeant Feng und Shan am Marktplatz eintrafen, machte Feng keine Anstalten, den Wagen zu verlassen. Shan ging auf direktem Weg zum Laden der Heilerin, doch er betrat Khordas Hütte nicht, sondern stellte sich in die benachbarte Gasse. Ein Junge in einer Hirtenweste erschien neben ihm, raunte ihm eindringlich zu, er solle dort warten, und kehrte wenig später mit dem narbengesichtigen purba zurück.
»Du brauchst nicht zum Berg zu gehen«, sagte Shan. »Du brauchst dich nicht zu opfern. Ich habe eine andere Möglichkeit gefunden.«
Der purba sah ihn skeptisch an.
»Ich muß heute mit dem Essen bei der 404ten hereinkommen«, sagte Shan.
»Wir sind nicht diejenigen, die das Essen liefern. Das ist Sache der Wohlfahrtsorganisation.«
»Aber manchmal geht ihr mit ihnen. Es bleibt keine Zeit für Spielchen. Ich weiß jetzt, was vor sich geht. Manchmal laßt ihr jemanden dort zurück.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, erwiderte der purba zugeknöpft.
»Das Lager der 404ten ist auf felsigem Untergrund errichtet. Es gibt keinen Tunnel. Es gibt auch kein Loch im Zaun. Und niemand fliegt wie ein Pfeil durch die Luft.«
Der purba schaute wachsam über Shans Schulter hinweg zum Marktplatz. »Hast du deine Untersuchung abgeschlossen?«
»Ich habe Trinle gesehen, und zwar nicht bei der 404ten.«
»Trinle ist ein sehr heiliger Mann. Er wird oft unterschätzt.«
»Ich unterschätze ihn nicht. Nicht in diesem Fall. Für ihn ist die 404te kein Gefängnis. Er kommt und geht, um die Angelegenheiten von Nambe gompa zu regeln. Er kommt und geht mit den purbas. Niemand sonst könnte das für ihn tun.«
»Und wie sollten wir diesen Zauber bewerkstelligen?«
»Ich weiß es nicht genau. Aber es dürfte nicht allzu schwierig sein, solange am Ende die Anzahl der Häftlinge stimmt.«
Der purba verzog das Gesicht. »Den Platz eines Gefangenen einzunehmen, wäre äußerst leichtsinnig. Man würde die sofortige Hinrichtung riskieren.«
»Aus diesem Grund nehmen ja auch nur die purbas dieses Risiko auf sich.«
Der Mann reagierte nicht.
»Trinle ist häufiger krank als die meisten anderen«, sagte Shan. »Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Manchmal zieht er sich die Decke über den Kopf und bleibt im Bett liegen. Jetzt weiß ich auch den Grund dafür. Weil es sich gar nicht um ihn handelt. Ich kann mir schon denken, wie es gemacht wird. An verabredeten Tagen helfen einige purbas bei der Nahrungsausgabe, wenn die Wohlfahrtsorganisation das Essen bringt. Einer der Männer trägt unter seiner Zivilkleidung die Montur eines Häftlings. Wenn Trinle die Ausgabe erreicht, wird irgendwie für Ablenkung gesorgt. Vielleicht duckt er sich unter die Tische und zieht die Zivilkleidung an. Der purba tauscht mit ihm die Plätze und bleibt in der 404ten, bis Trinle zurückkommt. Die Wachposten sind nicht wählerisch. Sie kennen nicht alle Gesichter. Solange die Anzahl sich nicht verändert, wie sollte es da eine Flucht geben? Und solange er sein Gesicht verbirgt, wie sollten die anderen Häftlinge da Verdacht schöpfen?«
Der purba starrte Shan an. »Was genau willst du?«
»Ich muß durch die Todeszone. Heute noch.«
»Es ist sehr gefährlich. Jemand könnte getötet werden.«
»Jemand ist bereits getötet worden. Wie viele müssen noch umkommen?«
Der purba ließ den Blick über den Marktplatz schweifen, als würde er dort nach der Antwort suchen. »Kohlköpfe«, sagte er plötzlich. »Halte nach Kohlköpfen Ausschau.« Dann bog er um eine Ecke und war verschwunden.
Als Feng zwanzig Minuten später durch den Stadtverkehr fuhr, kippte direkt vor ihnen ein Karren voller Kohlköpfe um. Feng legte den Rückwärtsgang ein, doch plötzlich blockierte sie von hinten ein zweiter Karren.
Shan sprang sofort aus dem Wagen. »Hören Sie genau zu, Sergeant. Gehen Sie zu Tan. Sagen Sie ihm, er muß mit Ihnen kommen. Zur 404ten. Wir drei treffen uns dort in zwei Stunden am Zaun.« Er wandte sich ab, ignorierte Fengs schwachen Protest und verschwand in der Menge.
Eine Stunde darauf befand er sich auf dem Gelände der 404ten, trug eine übergroße Wollmütze und die Armbinde der Wohlfahrtsorganisation und teilte Näpfe mit Gerstenbrei aus. Als ungefähr die Hälfte der Warteschlange an ihm vorübergezogen war, ließ jemand einem der Wachposten einen Eimer Wasser auf den Fuß fallen. Der Wachsoldat schrie. Der Tibeter, der den Eimer getragen hatte, fiel hin und stieß dabei einen der Häftlinge um. Weitere Wachen liefen herbei, um der Ursache für den Tumult auf den Grund zu gehen.
In dem folgenden Durcheinander duckte Shan sich unter das hintere Ende des langen Tisches, über das man ein schmutziges Stück Filz gehängt hatte, zog seine Jacke aus und stellte sich in die Warteschlange. Die Sträflingskleidung, die er trug, hatten die purbas ihm gegeben.
Choje war nicht beim Essen. Shan fand ihn meditierend in seiner Hütte und setzte sich vor ihn hin. Chojes Augen öffneten sich, und er legte Shan eine Hand auf die Wange, als wolle er sich vergewissern, daß er echt war. »Ich freue mich, dich zu sehen, aber du hast dir für deine Rückkehr einen unglücklichen Zeitpunkt ausgesucht.«
»Ich mußte mit dem Abt vom Kloster Nambe sprechen.«
»Nambe wurde zerstört.«
»Seine Gebäude wurden zerstört. Seine Bewohner wurden eingesperrt. Doch das gompa lebt.«
Choje zuckte die Achseln. »Wir konnten nicht zulassen, daß es stirbt.«
»Wegen des Versprechens, das ihr dem Zweiten Dalai Lama im Hinblick auf Yerpa gegeben habt.«
Choje wirkte nicht überrascht. »Es ist mehr als ein Versprechen. Eine heilige Pflicht.« Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Es ist wundervoll, nicht wahr?«
»Wissen die purbas davon, Rinpoche?«
Choje schüttelte den Kopf. »Die purbas wollen allen Gefangenen helfen. Sie tun das Richtige. Aber es war nie erforderlich, sie in unser Geheimnis einzuweihen. Es ist unsere Pflicht, nichts davon zu erzählen. Es reicht aus, wenn sie wissen, daß das Kloster Nambe lebt und sie zu diesem Überleben beitragen, indem sie Trinle helfen.«
Shan nickte, als Choje seinen Verdacht bestätigte. »Ich verstehe jetzt, warum Trinle gehen mußte und weshalb der Pfeilzauber schließlich zu funktionieren schien. Ihr mußtet sicherstellen, daß das Vorgehen der Kriecher publik wird. Ein solches Wunder würde mit Sicherheit öffentliches Aufsehen erregen, sobald die Kunde davon sich verbreitete.«
Choje blickte auf seine Hände hinab. »Wir hatten Bedenken, Trinle und ich, daß unser Vorgehen vielleicht eine Lüge war.«
»Nein«, versicherte Shan ihm. »Es war keine Lüge. Ihr habt tatsächlich ein Wunder bewirkt, Rinpoche.«
Das heitere Lächeln kehrte auf Chojes Miene zurück.
»Du weißt, daß die Welt glauben wird, all dies wäre geschehen, um eine einzige Seele zu retten«, sagte Shan.
»Die Seele eines chinesischen Anklägers. Das ist gar keine so schlechte Lektion, Xiao Shan.«
Einhundertachtzig Mönche begehen Selbstmord, um die Seele ihres Anklägers zu retten, dachte Shan. Überall sonst wäre dies der Stoff, aus dem legenden entstehen. Aber hier war es bloß ein ganz gewöhnlicher Tag in Tibet.