»Doch du und ich wissen, daß dies nicht der wahre Grund ist.«
Choje wölbte die Hände, so daß die Fingerspitzen sich berührten. Das mudra gehörte zu den Opferzeichen; es hieß Schatzkästchen. Choje musterte es mit zurückhaltendem Lächeln und streckte die Hände dann Shan entgegen. Schweigend kam Shan der Bitte des Abtes nach und formte mit den eigenen Händen das gleiche mudra. Choje vollführte eine Geste, als würde er den Inhalt seiner Hände in das von Shan geformte Behältnis gießen, zog die Finger dann langsam auseinander und ließ Shan mit dem Kästchen zurück.
»So«, sagte er. »Der Schatz gehört jetzt dir.«
Shan spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. »Nein«, flüsterte er in schwachem Protest und schloß fest die Augen, um gegen die Traurigkeit anzukämpfen. Nach deinem Tod wird man die Straße trotzdem weiterbauen, wollte er sagen. Doch er kannte Chojes Antwort. Es spielte keine Rolle, solange Choje und das Kloster Nambe nur aufrichtig gewesen waren.
»Das Donnerritual ist ebenfalls ein Teil von Nambes Pflichten, nicht wahr?«
Choje nickte beifällig. »Deine Augen haben schon immer sehr weit geblickt, mein Freund. Als man das Gelübde ablegte, den gomchen zu beschützen, war Nambe bereits viele Jahrhunderte alt. Es war das Zentrum des Rituals und hatte das Verfahren vervollkommnet. Damit ein Sterblicher den Donner hervorrufen kann, bedarf es einer sehr tiefen Ausgeglichenheit, des höchsten Zustands der Meditation. Manche behaupten, das sei der Grund dafür gewesen, daß man uns die Ehre erwies, Yerpas Schutz übernehmen zu dürfen.«
»Trinle und Gendun sind Meister dieses Rituals.«
Choje lächelte nur.
Sie verweilten schweigend und lauschten den Mantras, die von draußen hereindrangen, nachdem die Mönche ihre Mahlzeit beendet hatten.
»Du bist mit einem bestimmten Anliegen hergekommen«, sagte Choje schließlich.
»Ja. Ich muß mit Trinle sprechen. Über jene Nacht. Ich weiß, daß er ohne deine Erlaubnis nichts sagen wird.«
Choje dachte über diese Bitte nach. »Du verlangst sehr viel.«
»Es besteht noch immer eine Chance, Rinpoche. Eine Chance, sowohl Nambe als auch Yerpa zu retten. Du mußt mich die Wahrheit finden lassen.«
»Alles hat irgendwann ein Ende, Xiao Shan.«
»Falls das Ende wirklich unabwendbar ist«, sagte Shan, »dann laß es im Licht enden, nicht im Schatten.«
»Weißt du, man würde ihnen Drogen verabreichen, falls man Trinle oder Gendun in die Finger bekäme. Diese Drogen sind wie Zaubersprüche. Die beiden könnten nichts tun, um sich den Fragen zu widersetzen, und das wissen sie auch. Falls die Soldaten versuchen, sie zu ergreifen, werden Trinle und Gendun sich für den Tod entscheiden. Kannst du diese Last tragen?«
»Falls die Soldaten versuchen, Sie zu ergreifen«, erwiderte Shan sogleich, »werde auch ich mich für den Tod entscheiden.« Wenn die Kriecher hinter dir her waren, stellte der Tod kein größeres Problem dar. Falls du wegliefst, würden sie schießen. Falls du auf sie zuliefst, würden sie schießen. Falls du Widerstand leistetest, würden sie schießen.
Er bemerkte, daß Choje ihn anlächelte, und sah nach unten. Shans Hände formten noch immer das mudra, das Schatzkästchen. Choje begann zu sprechen.
Zwanzig Minuten später stand Shan am Rand der Todeszone und zog sein Sträflingshemd aus. Er trat einen Schritt vor. Die Kriecher riefen eine Warnung. Drei der Männer luden ihre Gewehre durch und legten direkt auf ihn an. Ein Offizier zog die Pistole und wollte gerade einen Schuß in die Luft abgeben, als jemand ihn am Handgelenk packte und die Waffe nach unten drückte. Es war Tan.
»Dir bleiben weniger als achtzehn Stunden«, knurrte der Oberst. »Du solltest lieber den offiziellen Bericht abschließen.«
Doch als sie sich von den Kriechern entfernten, verflog sein Ärger. »Die Delegation des Ministeriums ist bereits bei Li. Man hat den Zeitplan geändert. Der Prozeß wird morgen früh um acht stattfinden.«
Shan blickte beunruhigt auf. »Sie müssen für einen Aufschub sorgen.«
»Mit welcher Begründung?«
»Ich habe einen Zeugen.«
Kapitel 20
Sie trafen vor Einbruch der Dämmerung ein, genau wie Choje ihn angewiesen hatte. Sprich nicht mit den purbas, hatte er gesagt. Laß nicht zu, daß die Kriecher dir folgen. Sei einfach nur bei Sonnenaufgang dort, auf der Freifläche vor der neuen Brücke.
»Und man konnte ihn wirklich nicht ausfindig machen?« fragte Shan, als Sergeant Feng den Motor abstellte. »Vielleicht ist er in eine andere Baracke umgezogen. Er hat keinen Ort, an den er gehen könnte.«
»Nein. Er ist verschwunden. Als es dunkel wurde, hat er sich auf den Weg gemacht«, sagte Feng. »Du wirst ihn bestimmt nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
Als Shan in ihre Unterkunft zurückgekehrt war, hatte Yeshes Tasche gefehlt. »Hat er denn gar nichts gesagt oder irgend etwas zurückgelassen?«
Sergeant Feng griff in die Hemdtasche. »Nur das hier«, sagte er und legte den kaputten Rosenkranz auf das Armaturenbrett. Es waren nur noch die Schnur und zwei Anzeigerperlen übrig. Feng gähnte und kurbelte die Lehne seines Sitzes nach hinten. »Ich weiß, wohin er wollte, denn er hat mich nach dem Weg gefragt. Diese chemische Fabrik in Lhasa. Die stellen jede Menge Tibeter ein, ob nun mit oder ohne Papiere.«
Shan schlug die Hände vor das Gesicht.
»Wir könnten die Patrouillen bitten, ihn wieder aufzugreifen, falls du ihn noch brauchst.«
»Nein«, entgegnete Shan wütend und stieg aus dem Wagen.
Da war nichts, nur die schmale Mondsichel über dem schwarzen Umriß der Berge. Shan ertappte sich dabei, wie er dort unter dem funkelnden Sternenzelt stand und nach Jaos Geist Ausschau hielt.
Auf der Straße, die aus der Stadt herführte, näherte sich ein weiteres Fahrzeug und hielt hinter ihnen an. Es war Tan, der am Steuer seines eigenen Wagens saß. Er trug eine Pistole.
»Das gefällt mir nicht«, sagte der Oberst. »Ein Zeuge, der sich versteckt, ist nutzlos. Wie will er denn aussagen? Er wird uns zur Verhandlung begleiten müssen, und dort wird man ihn fragen, warum er sich erst so spät gemeldet hat.« Er musterte die dunkle Landschaft und warf Shan dann einen argwöhnischen Blick zu. »Falls es sich um einen Kultanhänger handelt, wird man sagen, er sei ein Komplize.«
Shan starrte in die Dunkelheit hinaus. »Eine Gruppe von Mönchen hat diese Brücke beobachtet«, erklärte er. »Man hat versucht, sie zum Einsturz zu bringen.«
Tan stieß einen leisen Fluch aus. »Indem man sie beobachtet?« fragte er mit bitterer Ironie. Er drehte sich zu seinem Wagen um, als würde er in Erwägung ziehen, wieder wegzufahren. Dann jedoch folgte er Shan langsam auf die Freifläche.
»Indem man sie anschreit«, sagte Shan. Wie konnte er die zerbrochenen Tongefäße oberhalb der Brücke oder in Yerpa erklären, wo Trinle und die anderen das alte Donnerritual übten? Wie konnte er den uralten Glauben erklären, daß ein perfekter Klang die zerstörerischste aller Naturkräfte war? »Eigentlich ist es auch kein richtiger Schrei. Man erzeugt Schallwellen. Genau davor hat Sergeant Feng sich in jener Nacht auch so sehr erschrocken, daß er seine Pistole benutzt hat. Wie ein Schlag, der...«
Er hielt inne. In der aufsteigenden Morgenröte bemerkte er einen grauen Schatten am anderen Ende der Freifläche, rund zehn Meter von ihnen entfernt, einen großen Felsen, der sich jetzt langsam in die Gestalt eines sitzenden Mannes verwandelte. Es war Gendun.
Sie blieben zwei Meter vor ihm stehen. »Das ist ein Priester aus einem nahen Kloster«, erklärte Shan dem Oberst und wandte sich dann an den alten Mönch. »Würden Sie uns bitte sagen, wo Sie sich in der Nacht der Ermordung von Ankläger Jao befunden haben?«