»Oberhalb der Brücke«, erwiderte Gendun mit gleichmäßiger und ruhiger Stimme, als würde er ein Mantra aufsagen. »Zwischen den Felsen. Ich habe gebetet.«
»Warum?«
»Im sechzehnten Jahrhundert sind Invasoren aus der Mongolei hier eingedrungen. Priester aus meinem Kloster haben dafür gesorgt, daß die Armee unter einer Lawine begraben wurde und so Lhadrung nicht erreichen konnte.«
Tan warf Shan einen wütenden Blick zu, doch bevor er sich abwenden konnte, fuhr Gendun fort. »Diese Brücke gehört nicht hierher. Es ist ihr beschieden, zerstört zu werden.«
Er wurde unterbrochen, weil sich auf der Schotterstraße hinter ihnen mit hoher Geschwindigkeit ein schwerer Lastwagen näherte. Das Fahrzeug bremste scharf, und Li Aidang sprang heraus. Er trug einen Arbeitsanzug des Militärs. Nachdem er sich einige Schritte von dem Laster entfernt hatte, stieß er einen kurzen Befehl aus, woraufhin ein halbes Dutzend uniformierter Kriecher von der Ladefläche kletterte. Im Licht der Scheinwerfer erschien der Major, von dessen Schulter eine kleine Maschinenpistole hing. Die Soldaten stellten sich vor Li in einer Reihe am Straßenrand auf.
Gendun wurde von einer seltsamen Gelassenheit ergriffen, und sein Blick schien sich in die Ferne zu richten. Er achtete nicht auf die Kriecher, sondern konzentrierte sich auf die Berge, als wolle er sich den Anblick für spätere Zwecke einprägen. Immerhin konnte er keinen Einfluß auf seine nächste Inkarnation nehmen. Vielleicht würde er in vielen tausend Kilometern auf dem Boden einer Wüstenbehausung wiedergeboren werden.
»Die Sonne war ungefähr seit einer Stunde untergegangen, als die Scheinwerfer eines Autos aufgetaucht sind«, fuhr er plötzlich fort. »Es hat in der Nähe der Brücke angehalten und das Licht ausgeschaltet. Dann waren zwei Stimmen zu hören. Zwei Männer, glaube ich, und eine Frau, die gelacht hat. Ich glaube, sie war irgendwie berauscht.«
»Eine Frau?« fragte Shan. »Da war eine Frau bei Ankläger Jao?«
»Nein. Das hier war der erste Wagen.«
Die Stille kurz vor Sonnenaufgang war einzigartig. Sie schien die Soldaten völlig in Bann zu schlagen. Genduns Worte waren laut und deutlich zu verstehen. Aus der Schlucht hallte der unheimliche Schrei einer Eule herüber.
»Dann hat sie geschrien. Ein Todesschrei.«
Die Worte rissen Li aus seiner Erstarrung. Er trat auf die Freifläche und ging auf Gendun zu. Shan stellte sich ihm in den Weg.
»Wagen Sie es nicht, das Justizministerium bei der Arbeit zu behindern«, knurrte Li. »Dieser Mann ist ein Verschwörer. Er gibt zu, daß er hier gewesen ist. Er wird Sungpo auf der Anklagebank Gesellschaft leisten.«
»Wir sind nach wie vor mit der Durchführung einer Untersuchung beschäftigt«, protestierte Shan.
»Nein«, hielt Li ihm wütend entgegen. »Das ist vorbei. Das Ministerium wird in drei Stunden die Verhandlung eröffnen. Ich bin derjenige, der den Bericht der Anklage vorlegen wird.«
»Das glaube ich kaum«, sagte Tan, allerdings so leise, daß Shan sich nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte.
Li ignorierte ihn und gab den Kriechern einen Wink.
»Ohne Gefangenen wird es wohl schwerlich einen Prozeß geben«, fuhr Tan fort.
»Was soll das denn heißen?« brüllte Li.
»Ich habe ihn aus dem Arrestlokal entfernen lassen, und zwar um Mitternacht.«
»Unmöglich. Er wurde von der Öffentlichen Sicherheit bewacht.«
»Die Wachen wurden abgezogen und durch einige meiner Leute ersetzt. Anscheinend gab es ein wenig Verwirrung hinsichtlich der Befehle.«
»Sie haben dazu keinerlei Befugnis!« herrschte Li ihn an.
»Solange Peking keine gegenteilige Weisung erläßt, bin ich der höchste Beamte in diesem Bezirk.« Tan hielt inne und schaute in Richtung des Abhangs.
Da war ein summendes Geräusch, das ihn ablenkte. Es klang wie ein natürlicher Laut, wie eine Vielzahl von Fröschen und war zuvor nicht zu hören gewesen. Doch jetzt schien es näher zu kommen. Am Rand der Freifläche, keine vier Meter von Gendun entfernt, tauchte im trüben Halbdunkel ein weiterer Priester auf. Es war Trinle. Er saß im Lotussitz und betete mit tiefer nasaler Stimme ein Mantra. Li grinste affektiert und ging auf Trinle zu, das neue Objekt seiner Wut. Dann ertönte auf einmal ein gleichartiges Geräusch von der gegenüberliegenden Seite der Freifläche. Shan ging in diese Richtung und entdeckte ein weiteres rotes Gewand im niedrigen Gestrüpp. Li wollte erneut wütend auf Trinle zustürmen, verharrte jedoch abermals, als eine dritte und vierte Stimme sich nacheinander dazugesellten, alle im gleichen Rhythmus und in identischer Tonlage. Das Geräusch schien von überall und nirgends zugleich zu kommen.
»Packt sie!« rief Li. Doch die Kriecher standen wie versteinert da und starrten auf den Hang.
Es wurde allmählich heller, und Shan konnte die Gewänder am Rand der Freifläche gut genug sehen, um sie zu zählen.
Sechs. Zehn. Nein, noch mehr. Fünfzehn. Er erkannte mehrere der Gesichter. Einige waren purbas. Andere kamen aus den Bergen, Beschützer des gomchen.
Li drehte sich um und zog einem der Soldaten den Schlagstock aus dem Gürtel. Kochend vor Wut schritt er den Rand des Areals ab und schwang den Knüppel. Dann blieb er stehen und hieb auf Trinles Rücken ein. Trinle reagierte nicht. Tobend brüllte Li nach dem Major, der unsicher einige Schritte vortrat und ein paar Meter vor Trinle verharrte. Li eilte zu ihm und schien nach seiner Waffe greifen zu wollen.
Shan zwang sich dazu, zwischen ihnen und Trinle Position zu beziehen. Am Rand des Kreises bewegte sich etwas. Sergeant Feng tauchte auf. In der Hand hielt er einen großen Schraubenschlüssel aus dem Wagen. Es war vorbei, begriff Shan. Daß er verloren hatte, war keine Überraschung. Aber daß die 404te und Yerpa verloren sein würden, war unerträglich. Er hoffte inständig, daß es wenigstens schnell vorbei sein würde. Eigentlich wäre es ganz passend, dachte er flüchtig, wenn die entscheidende Kugel von Sergeant Feng käme.
»Weg da«, hörte er Feng knurren. Doch der Sergeant sprach nicht mit ihm. Feng fuhr herum und stellte sich neben Shan, so daß er Li und dem Major die Stirn bot. Das Mantra dauerte an.
»Du altes Schwein«, beschimpfte Li den Sergeanten höhnisch. »Damit ist deine Soldatenlaufbahn beendet.«
»Mein Auftrag lautet, auf den Genossen Shan aufzupassen«, grunzte Feng und stellte sich breitbeinig hin, als würde er mit einem Angriff rechnen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und prompt schien das Mantra wieder lauter zu werden. Der Major ging zurück zu seinen Männern und befahl ihnen, die Schlagstöcke zu ziehen.
Tan tauchte auf Shans anderer Seite auf. Sein Gesicht war angespannt. Er warf Shan einen seltsam traurigen Blick zu und wandte sich dann an Li. »Diese Leute«, sagte er mit weit ausholender Geste, »stehen unter meinem Schutz.«
Li starrte ihn an. »Ihr Schutz ist wertlos, Oberst«, stieß er wütend hervor. »Wir führen Ermittlungen gegen Sie durch, und zwar wegen Bestechlichkeit im Amt. Sie haben keine Befehlsgewalt mehr.«
Tans Hand legte sich auf sein Holster. Der Major griff nach seiner Maschinenpistole.
Plötzlich übertönte ein neues Geräusch die Litanei der Mönche: das Zischen von Luftdruckbremsen. Alle Anwesenden drehten sich völlig entgeistert um und sahen einen langen glänzenden Bus anhalten. Die Scheiben wurden heruntergeschoben.
»Martha!« rief jemand auf englisch. »Sieh nur, sie halten eine Morgenandacht ab. Schnell, leg einen neuen Film ein.«
Die Touristen stiegen einer nach dem anderen aus, schossen Fotos und machten Videoaufnahmen von den Mönchen, von Shan, von Li und den Kriechern.
Shan blickte in den Bus. Der Mann am Steuer kam ihm bekannt vor; es war ein Gesicht vom Marktplatz. Neben ihm, in einem eleganten Geschäftskostüm mit Krawatte, stand Miss Taring vom Büro für Religiöse Angelegenheiten. Sie fing an, etwas über buddhistische Riten und die Nähe der Buddhisten zu den Kräften der Natur zu erzählen.